Rückblick
Was sind die Versprechen (digitaler) Bildung? In meinen bisherigen Postings (etwa hier) habe ich dargestellt, dass es sich dabei um ein rhetorisches Stilmittel handelt, das seit langer Zeit die Einführung von neuen Technologien begleitet. Charakteristisch ist dabei, dass die Rhetorik stabil bleibt, während sich die Technologien immer weiter verändern.
Um dies weiter auszuführen, habe ich mir den Text Do Educational Technologies Have Politics? A Semiotic Analysis of the Discourse of Educational Technologies and Artificial Intelligence in Education näher angeschaut und fasse die für mich wesentlichen Thesen nachfolgend zusammen.
Zentrale Thesen
Der Artikel führt die rhetorische Figur des dialogischen Gegenspielers ein. Damit gemeint ist ein starker Gegensatz, der im Kontext einer überzeichneten Version traditioneller Bildung aufgemacht wird (dies lässt sich auch als Krisendiskurs verstehen). Um diese konstatierte Krise zu bewältigen, werden Marketing-Strategien für bestimmte Ed-Tech-Produkte entwickelt. Dadurch sollen Bildungstechnologien als wichtige Maßnahme für die Zukunft der Bildung aufgebaut werden. Weiterhin wird mit den hohen Erwartungen, die mit den Technologien verknüpft sind (Steigerung der Effizienz, Optimierung bzw. Revolutionierung des Bildungssystems) eine Immunisierung gegenüber möglichen Fehlschlägen implantiert. Denn es fehlen überwiegend die empirischen Belege für die versprochenen Effekte – aber das ist Teil der rhetorischen Strategie.
Die Frage, die sich der Artikel nun stellt ist: Wie kam es dazu? Genauer gesagt, wie kam es dazu, dass eine bestimmte Art von Bildungstechnologien – automatisierte Instruktion durch elektronische Medien – so populär wurden? Es entstand nämlich eine Faszination für diese Technologien und viel Geld wurde und wird weiter investiert, ohne dass sich jemals die versprochenen Effekte einstellten.
Die Faszination für die Bildungstechnologien im Gewand der automatisierten Instruktion lässt also weniger auf empirische Evidenz als auf einen robusten Diskurs zurückführen. Dieser Diskurs geht von der selbst-referentiellen Behauptung aus, dass Automatisierung und Digitalisierung unvermeidbar sind (was eine Engführung von "Zukunft" ist und die Alternativen zu den Visionen der automatisierten Instruktion ausblendet). Tatsächlich geht es bei der Einführung neuer Technologien weniger um eine Reform des Bildungssystems, sondern um die Kontrolle einer Erzählung darüber, was Bildung ist und darum, alternative Vorstellungen zu unterdrücken (als ein anekdotisches Beispiel lässt sich die Dominanz der xMOOCs gegenüber den cMOOCs Mitte der 2010er-Jahre nennen).
Im Kern basiert der Diskurs auf der oben genannten Figur des dialogischen Gegenspielers. Das lässt sich bereits – mittels einer Diskursanalyse – bei den Anfängen der automatisierten Instruktion, den Lehrmaschine von Pressey und Skinner zeigen. Bei beiden wurde die Lehrmaschine als Mittel gegen die als inneffizient und schwerfällig dargestellte Schule propagiert. Da die Problemdiagnose (vereinfacht gesagt: altmodisches Bildungssystem) so mehrheits- und konsensfähig war, wurde die Frage, inwieweit die vorgeschlagene Lösung Lehrmaschine tatsächlich funktioniert, unterdrückt. Der Gegenspieler Schulsystem war auch zu schwach, dass er sich gegenüber den Vorwürfen wehren konnte. So blieb unklar, welche Wirkung die Lehrmaschine in Bezug auf die von den Befürwortern vorgebrachte Kritik hatte. Dieses argumentative Muster hat sich in den folgenden Dekaden weiter perfektioniert.
Nach Pressey hat Skinner die oben beschriebene diskursive Strategie weitergeführt. Auch er greift auf den Gegenspieler ineffizientes Bildungssystem zurück und schlägt zur Lösung der Bildungsprobleme eine einfache Maschine vor. Auch hier gibt es keine klare Beziehung zwischen den konstatierten pädagogischen Problemen (z.B. geringe Motivation) und der vorgeschlagenen technischen Lösung (Maschine).
Eine zentrale und wirkmächtige Diskursverschiebung wurde durch Skinner initiiert: "humane Bildung" wird als Personalisierung und Individualisierung um-definiert. Das eigene Lerntempo selbst zu bestimmen wird zum entscheidenden Eckpfeiler automatisierter Bildungstechnologien bis heute. Dabei scheint es (auch heute) keine Rolle zu spielen, dass die Selbstbestimmung des Lernenden sehr engen Grenzen unterliegt, den vorab definierten Lernpfaden, die ohne Partizipation zu absolvieren sind. Es ist eine perfide Verkehrung der unterdrückenden Wirkungen von Maschine und Lehrkraft, die hier vollzogen wird: Der Maschine werden befreiende Effekte zugeschrieben und der Lehrkraft unterdrückende.
Die Skinnersche Lehrmaschine war keine Modeerscheinung, sondern wurde zum Prototyp instruktionaler Bildungstechnologien, die mit hoch gesteckten Erwartungen verbunden war (siehe dazu das bald erscheinende Buch Teaching Machines von Audrey Watters). Der Erfolg der Lehrmaschine lässt sich auf die geschickte Verknüpfung bzw. Anbindung an folgende Diskurse erklären:
- Mit der Mechanisierung lässt sich die Bildung modernisieren / optimieren, d.h. bestimmte (wiederkehrende) Aufgaben lassen sich durch Maschinen effizienter erledigen (befreiende Wirkung)
- die Fokussierung von Spaß und Motivation beim Lernen (und die Überwindung der rein kognitiven Aspekten des Lernens); hier sehen wir Vorläufer zur Gamifizierung
- Quantifizierung und Messbarmachung: seit den 1950er-Jahren gab es Vorstellungen, wonach alle Bereiche des menschlichen Lebens messbar und optimierbar sind; ein Vorläufer für den Paradigmenwechsel zur empirischen Bildungsforschung und den standarisierten Lernstandserhebungen mit daran anschließenden hitzigen Debatten
Die große Leistung von Pressey und Skinner liegt darin, mit ihren Innovationen sowohl Versprechungen für die Humanisierung als auch für die Automatisierung von Bildung zu geben, die bisher meist in einem widersprüchlichen Verhältnis zu einander waren.
Die Wiederauferstehung der Lehrmaschine im Silicon Valley
Skinner und der Behaviorismus verloren seit den 1970er-Jahren an Einfluss und galten in den 2010er-Jahren als gänzlich überholt und altmodisch. Tatsächlich wurde im Silicon Valley auf die grundlegende rhetorische Figur des dialogischen Gegenspielers (siehe oben) auf eine überaus wirksame Weise zurückgegriffen.
So reanimierte die Khan Academy 2011 den dialogischen Gegenspieler von Skinner und sieht seine Lehrmaschine – kurze instruktionale Videos, die beliebig oft wiederholt werden können – als wirksame Lösung zur Modernisierung der Schule. Es ist also wieder eine technische-mechanistische Maßnahme (Stopp-Play-Zurückspielen-Knopf), die in einem pädagogischen Kontext eingesetzt wird und Bildungsprobleme beheben soll. Es ist jedoch auch klarzustellen, dass die Videos der Khan Academy sicherlich für viele Lernende sehr hilfreich sind und dass es nicht darum geht, das Modell zu simplifizieren.
Wie bei der Lehrmaschine von Pressey und Skinner so wird auch bei der Khan Academy eine eigentlich einfache technologische Eigenschaft als etwas viel Größeres dargestellt. So greift Sal Khan in seinem TED-Talk Let’s use video to reinvent education von 2011 auf die Erzählung der Disruption des Bildungssystems zurück. Ebenfalls bedient er sich der verzerrenden Argumentation, wonach Schule und Lehrer:innen durch Lehrvideos ersetzbar seien, da sie nur über eingeschränkte didaktische Methoden verfügen. Das ist eine unbegründbare Unterstellung, die nicht der Realität an Schulen entspricht – die Realität ist weitaus vielfältiger und facettenreicher als sie von Skinner und Khan dargestellt wird. Wie bei Skinner findet eine Umkehrung statt: Die Lehrer:innen wirken unterdrückend, die Maschine / Videos befreiend.
Bemerkenswert ist weiterhin die Rhetorik von Khan im Zusammenhang mit dem zugrundeliegenden Verständnis des Lernens bzw. der Lerntheorie. Da der Behaviorismus mittlerweile eine persona non grata ist, greift Khan auf Elemente progressiver Ansätze wie des Experiments zurück. Dadurch entsteht der Eindruck, dass das Lernen mit den Videos (wie zuvor bei der Lehrmaschine) weitaus mehr Freiheitsgrade eröffnet. Tatsächlich geht es darum, die vorab definierte Lernziele auf einem vorab festgelegten Weg zu erreichen. Dazu wird keine ausgeklügelte Technologie eingesetzt, sondern simple Statistik.
Eine Weiterentwicklung der Versprechen digitaler Bildung waren die MOOCs, die parallel zur Khan Academy aufkamen und zu einem der größten Hypes in der Bildungslandschaft der letzten Jahre wurden. Denn hier war nicht nur die Schule bzw. Hochschule der dialogische Gegenspieler – siehe dazu den berühmten Ausspruch von Sebastian Thrun aus dem Jahr 2012: "I can’t teach at Stanford again" – , sondern das als veraltet geltende E-Learning der 1990er-Jahre. Dem wurde eine moderne Variante gegenübergestellt, was allerdings zu widersprüchlichen Aussagen führte.
Zusammenfassung
Der Text Do Educational Technologies Have Politics? A Semiotic Analysis of the Discourse of Educational Technologies and Artificial Intelligence in Education liefert einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Versprechen digitaler Bildung. Dabei handelt es sich um eine rhetorische Figur, die von Personen wie Pressey und Skinner entwickelt und seither weiter verfeinert wurde. Im Unterschied zu den Bildungstechnologien, die auf automatisierter Instruktion beruhen, war der Diskurs über die Jahrzehnte sehr robust und dadurch auch erfolgreich; bis heute fehlen substantielle Belege für die Wirksamkeit der Lehrmaschinen. Es gibt eine direkte Linie von Skinner zu Khan, die natürlich von den "Vordenker:innen" des Silicon Valley bestritten und geschickt verschleiert wird. Darum ist die Aufklärung durch Forschung von Menschen wie Watters, Selwyn, Williamson etc. so wichtig.
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