tl;dr: Präsentation
Damit markiere ich eine Akzentverschiebung auf die Digitalität als Kondensat des sozio-technischen und kulturellen Wandels, den wir gemeinhin als Digitalisierung bezeichnen.
Während Digitalisierung in öffentlichen und bildungsbezogenen Diskursen fast ausschließlich technisch gerahmt wird und die steigende Bedeutung von vernetzter Infrastruktur und Künstlicher Intelligenz zum Ausdruck bringt, wird mit Digitalität der Blick auf die damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen gerichtet (Stalder, 2016). Es geht dabei also nicht um Technologien an und für sich, sondern darum, was Menschen damit in unterschiedlichen Kontexten machen und welche Auswirkungen Technologien wiederum auf soziale und kulturelle Praktiken haben. Um nur ein plakatives Beispiel zu geben, zeigt die Wikipedia seit vielen Jahren auf, wie sich Menschen weltweit auf einer offenen Plattform vernetzen, um das Weltwissen auszuhandeln und zu kartographieren. Dem gegenüber schwindet der Einfluss von Qualitätsmedien (Stichwort „Lügenpresse“) und sog. alternative Medien treten auf und nutzen geschickt soziale Medien für ihre Zwecke.
Darauf gehe ich aber im Detail gar nicht ein, sondern stelle nun im ersten Teil thesenartig mein Verständnis von Digitalität und dessen Bedeutung für die Pädagogik vor.
Thesen zur Kultur der Digitalität
Meine erste These lautet: Digitalität als sozio-kultureller Transformationsprozess schafft eine neue Ausgangslage, aus der wir nicht mehr heraustreten können (siehe dazu auch das Dagstuhl-Dreieck).
Vielmehr sind wir auf vielfältige und komplexe Weise mit Technologien und anderen Menschen verbunden. Mit dieser Perspektive soll auch die dominante Gegenüberstellung von Mensch und Technik, oder von Präsenz und Online überwunden werden. Im Bildungsbereich findet sich ein solcher Antagonismus beispielsweise in der Forderung, die Technik müsse der Didaktik folgen (oder umgekehrt).
Ich halte beide Positionen für falsch, denn es geht gar nicht darum, alte und neue Medien gegeneinander auszuspielen oder so viel wie möglich digitale Tools in Unterrricht und Lehre einzusetzen. Auch bei vermeindlichen analogen didaktischen Settings, in denen digitale Technologien keine Rolle zu spielen scheinen, sind sie ein bestimmendes Moment. Der Soziologe Andreas Hepp spricht hier von tiefgreifender Mediatisierung und meint damit die wachsende Verflechtung der sozialen Welt mit digitalen Medien und deren Infrastrukturen
Quelle Es gibt eine lange Forschungstradition, die sich aus soziologischer, ästethischer und philosophischer Sicht mit den Konsequenzen der unhintergehbaren Verschränkung des Menschen mit Technologien beschäftigen. Die Ansätze des Post-Humanismus (Braidotti, 2019) oder der Akteur-Netzwerk-Theorien (Latour, 1996) bieten eine kritische Reflexionsfolie, die für die Medienbildung noch weitaus systematischer aufgegriffen und verarbeitet werden können.
So hilft die Perspektive der wechselseitigen Verflechtung von Mensch und Technik auch aus der Sackgasse der Mehrwerts-Debatte heraus (siehe dazu Schiefner-Rohs, 2017). Seit vielen Dekade bestimmt das Argument, wonach Medien nur dann im Unterricht eingesetzt werden dürfen, wenn damit auch ein didaktischer und pädagogischer Mehrwert verbunden ist. Wenn nun aber die Schule das Kriterium „Mehrwert“ selbst festlegt, werden dadurch Innovationen verhindert. Wie ein Rückblick in die Geschichte der Medienintegration in Schulen zeigt, haben sich diejenigen Medien und Technologien durchgesetzt, die sich gut an die dominanten Strukturen und Routinen anpassen (z.B. interaktive Whiteboards, Learning Management Systeme). Dadurch beschränken wir uns um viele Möglichkeiten, die sich mit der fortschreitenden Digitalisierung eröffnen.
Mit einem weiteren Aspekt möchte ich auf die Engführung der instrumentellen Perspektive auf Medien hinweisen. Aus der Praxis, wie in diesem Blogpost berichtet wird, ist bekannt, dass Lehrende sich oft für eine didaktische Methode entscheiden, ohne sich zuvor ausreichend Gedanken über die pädagogische Ziele, die mit der Methode erreicht werden sollen, gemacht zu haben. Bei der Wahl von Technologien wird der Fokus dann auf den instrumentellen Nutzen gelegt – welche Technologie hilft am Besten bei Methode xy. Indem wir uns von einem Kosten-Nutzen-Kalkül leiten lassen, werden günstige Bedingungen für die Anbieter von kommerziellen Bildungstechnologien (Ed-Tech) geschaffen, Schule und Hochschule als Markt zu bearbeiten. Das sehen wir aktuell im Zusammenhang mit der COVID-19 Pandemie. Ed-Tech als Geschäftsmodell war in der Phase der akuten Krisenintervention unterstützend, z.B. durch Angebote für Video-Konferenz-Systeme. Allerdings – und darauf weisen kritische Bildungsforscher*innen immer wieder hin – beteiligen sich Ed-Tech-Firmen auch an strategischen Überlegungen zur Zukunft der Bildung mit Positionen, die aus pädagogischer Sicht schwierig sind (Teräs et al., 2020). Darum setze ich dieser für mich problematischen Entwicklung eine dezidiert pädagogische Perspektive entgegen und formuliere dazu meine zweite These.
Lehren und Lernen in der Digitalität ist zuallererst pädagogische Beziehungsarbeit.
Am Beispiel der COVID-19 Pandemie sehen wir gerade, wie wichtig soziale und physische Präsenz nachwievor ist (siehe dazu die internationalen Perspektiven von Crawford et al., 2020 und Morris, 2020). Diese Erkenntnis mag für manche vielleicht nicht besonders überraschend sein. Anders allerdings, wenn wir uns den Diskurs zur Digitalisierung von Schule und Hochschule Prä-Corona vor Augen führen. Dann ging es wie etwa bei den Massive Open Online Courses um Selbstlernprogramme, die oft unbetreut im Internet stattfanden.
Während der COVID-19 Pandemie zeigt sich deutlich, dass fehlende Betreuung mit psychischen Belastungen von Lernenden einhergeht. Beispielsweise wurden oft die Kameras in Video-Konferenzen von den Studierenden ausgeschaltet, was zu Irritationen führte. Die Süddeutsche Zeitung sprach schon von der Generation unsichtbar. Hier fehlt es an kulturellen Praktiken, um mit ungewohnten, herausfordernden Situationen angemessen umgehen zu können.
Es ist eine pädagogische Aufgabe, neue kulturelle Praktiken entstehen zu lassen. Nicht direktiv und autoritär, sondern ko-kreativ, im gemeinsamen Dialog mit Schülerinnen, Schulleitungen, Bildungspolitikerinnen, Eltern und Interessenverbänden. Es ist ein gemeinsamer Lernprozess ohne vorab festgelegte Outcomes, dafür mit einer Haltung, die getragen ist von Offenheit und Wachsamkeit. Gerade da in der Gesellschaft und der Arbeitswelt viel im Umbruch ist, braucht es Anleitungen zur Orientierung und zum Einordnen. Genau das umschreibt für den international bekannten Bildungsphilosophen Gerd Biesta die Kernaufgabe von Pädagogik: „(…) the need for concrete situated judgements about what is educationally desirable, both with regard to the aims of education and with regard to its means"
(Biesta, 2012, S. 44).
Zusammengefasst bedeutet Lehren und Lernen in der Digitalität zum einen die unhintergehbare und immer weiter reichende Verschmelzung von Mensch und Technik, wodurch alte kulturelle Prozesse verschwinden und neue entstehen. Diese neu entstehende Ordnung müssen wir mit den Mitteln der Pädagogik lernen zu verstehen.
Im zweiten Teil skizziere ich aufbauend auf den Thesen mein Forschungsprogramm.
Skizze Forschungsprogramm
Mit meiner Forschung trage ich dazu bei, die komplexe Realität der Digitalität in Schule und Weiterbildung aus einer pädagogischen Perspektive zu verstehen. Dazu fokussiere ich weniger auf einzelne Geräte, Apps oder Bildungssoftware, sondern auf die unterschiedlichen Praxen, in denen digitale und analoge Medien im Unterricht oder beim Lernen zu Hause eingesetzt werden. Ich orientiere mich dazu an der Praxistheorie mit ihren Paradigmen und Leitfragestellungen (Couldry, 2012). Wie ich oben bereits ausgeführt habe, denke ich, dass uns die Frage nach der Lernwirksamkeit eines Mediums, die oft in Vergleichsstudien bearbeitet wurde, nicht weiterbringt. Bei diesen Studien wird die Komplexität der Praxis stark reduziert, so dass Aussagen nicht ausreichend generalisierbar sind.
Darum lohnt es sich die Praxis selbst in den Blick zu nehmen. Praxis meint dabei einen Ort mit einer spezifischen Ordnungslogik und einen Ort, an dem Verständnis und Orientierung generiert wird. Während die Praxis des Autofahrens oder des Kochens aus mehreren Handlungsschritten, die routiniert und zum Teil automatisiert ablaufen, ist die Praxis des digitalen Lehrens und Lernens noch offener. Es kommen kontinuierlich neue Technologien und digitale Anwendungen auf den Markt, die von Menschen auf unterschiedliche Weise genutzt werden können.
Mit einer ethnographischen Perspektive lässt sich die Binnenlogik medialer Praxen studieren. Es geht darum zu erkunden, wie welche Handlungen zusammenhängen, die beim Lernen mit digitalen Medien ausgeführt werden. Das kann in formellen Bildungskontexten wie Schule und Unterricht sein, aber auch in außerschulischen Settings. Interessant sind hier Formate mit einem hohen Anteil an Kreativität, wie den Maker Spaces (siehe dazu zum Beispiel das Projekt Make Your School) oder dem sog. Zukunftstag Frei Day.
Ich möchte kurz ein Projekt vorstellen, das beispielhaft einen methodischen Zugang illustriert. Dabei handelt es sich um AEDiL – Auto-Ethnographische Forschung zur digitaler Lehre. Diese habe ich zusammen mit Forscher*innen unterschiedlicher Disziplinen zu Beginn der COVID-19 Pandemie ins Leben gerufen, um eine gemeinsame Plattform für den Austausch der Erfahrungen mit der „Zwangsdigitalisierung“ der Lehre zu schaffen.
Die Praxiserkundungen liefern Material, das in pädagogischer Aus- und Weiterbildung vielfach eingesetzt werden kann. Es bietet Anlass für systematische Reflexionen in Form von „Provokationen“ für Lehrende (was machen Schüler*innen, wenn sie Medien nutzen und inwieweit entspricht das meinen Vorstellungen?) oder als Unterstützung für den Medieneinsatz im Unterricht. Aus der Forschung ist bekannt, dass der Einbezug von technischen Innovationen in pädagogischen Kontexten für Lehrkräfte komplex und herausfordernd ist (Voogt & McKenney, 2017). Mit einer Praxisperspektive gibt einen Einblick in die Lebenswelt der jüngeren Generation, so dass sich die Komplexität der Mediennutzung einordnen lässt. Sie hilft auch, sich vom Erwartungsdruck, der bei der Digitalisierung von Bildung immer mitschwingt zu emanzipieren. Dies spielt an auf die weiter oben von mir angesprochene Sackgasse des Mehrwerts.
Ich komme nun zum dritten und letzen Teil.
Konsequenzen für Inhalte und Formate der Lehre
Ich plädiere für eine programmatische Neu-Ausrichtung der Medienbildung, die sich auf ein fundiertes Praxiswissen stützt, um daraus Maßnahmen für Kompetenzentwicklung ableiten zu können. Im Unterschied zu gängigen Programmen zur Förderung von Medienkompetenz / digitaler Kompetenz wird zunächst eine detaillierte Praxiserkundung – in Anlehnung an meine oben skizzierten theoretischen Grundlagen – vorgenommen. Dazu lassen sich Auto-Ethnographische Verfahren, Gruppen- / Fokusgruppendiskussionen oder Portfolio-Methoden einsetzen. Die Praxisbeschreibungen werden auf einer eigenen Plattform – dem Digital Education Lab – gesammelt und archiviert. Die qualitative Selbstbeschreibung ist eine Ergänzung und Erweiterung zu gängigen quantitativen Verfahren wie dem DigCompEdu CheckIn Tool zur Selbsteinschätzung
Mit dieser Erfassung des Ist-Zustands zum Praxiswissen lassen sich Desiderate identifizieren. Der Abgleich erfolgt vor dem Hintergrund eines kontinuierlichen Monitorings des Themenfelds „Digital Teaching and Learning“ und eines Austauschs mit der Forschungsgruppe Bildung und digitaler Wandel. Es lassen sich so strategische Entwicklungsperspektiven identifizieren, beispielsweise im Bereich der Datafizierung von Bildung.
Zusammenfassung
Mit der Digitalität eröffnet sich eine Perspektive, die den Blick auf den performativen Praktiken richtet, um die entstehende Kultur analysiert. Alte und neue Praktiken treffen aufeinander, zum Teil konflikthaft. Es kommt zu Aushandlungsprozessen, für die eine pädagogische Haltung erforderlich ist.
Bildungsinstitutionen müssen dazu die instrumentelle Sicht auf Medien überwinden und einen kreativen, partizipativen und spielerischen Umgang mit digitalen Medien und Technologien fördern.
Literaturverzeichnis
Biesta, Gert. „Giving Teaching Back to Education: Responding to the Disappearance of the Teacher“. Phenomenology and Practice 6, Nr. 2 (2012): 35–49.
Braidotti, Rosi. Posthuman knowledge. Medford, MA: Polity, 2019.
Couldry, Nick. Media, Society, World: Social Theory and Digital Media Practice. Cambridge: Polity Press, 2012.
Crawford, Joseph, Kerryn Butler-Henderson, Jürgen Rudolph, Bashar Malkawi, Matt Glowatz, Rob Burton, Paola A. Magni, und Sophia Lam. „COVID-19: 20 Countries’ Higher Education Intra-Period Digital Pedagogy Responses“. Journal of Applied Learning & Teaching 3, Nr. 1 (2020). https://doi.org/10.37074/jalt.2020.3.1.7.
Hepp, Andreas. „Von der Mediatisierung zur tiefgreifenden Mediatisierung“. In Kommunikation – Medien – Konstruktion, herausgegeben von Jo Reichertz und Richard Bettmann, 27–45. Wiesbaden: Springer, 2018. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21204-9_2.
Latour, Bruno. „On actor-network theory. A few clarifications plus more than a few complications“. Soziale Welt 47 (1996): 369–81.
Morris, Sean Michael. „Fostering Care and Community at a Distance“. Sean Michael Morris (blog), 28. Mai 2020. https://www.seanmichaelmorris.com/fostering-care-and-community-at-a-distance/.
Schiefner-Rohs, Mandy. „Medienbildung in der Schule. Blinde Flecken und Spannungsfelder in einer Kultur der Digitalität“. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung 27, Nr. Spannungsfelder&blinde Flecken (2017): 153–72. https://doi.org/10.21240/mpaed/27/2017.10.15.X.
Stalder, Felix. Kultur der Digitalität. Erste Auflage, Originalausgabe. edition suhrkamp 2679. Berlin: Suhrkamp, 2016.
Teräs, Marko, Juha Suoranta, Hanna Teräs, und Mark Curcher. „Post-Covid-19 Education and Education Technology ‘Solutionism’: A Seller’s Market“. Postdigital Science and Education, 2020. https://doi.org/10.1007/s42438-020-00164-x.
Voogt, Joke, und Susan McKenney. „TPACK in Teacher Education: Are We Preparing Teachers to Use Technology for Early Literacy?“ Technology, Pedagogy and Education 26, Nr. 1 (2017): 69–83. https://doi.org/10.1080/1475939X.2016.1174730.
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