Am vergangenen Dienstag war ich eingeladen in die KIT Graduate School Cultures of Knowledge und habe über die „Verspechen digitaler Bildung – Jenseits von Hypes“ gesprochen.
Was habe ich vor? Um was geht es? Der Vortrag hat drei Teile. Im ersten Teil geht es um die aktuelle Covid-19- Pandemie und die Konsequenzen für die Hochschullehre. Also starten wir direkt, wo wir uns jetzt alle noch befinden, mit den Auswirkungen der Pandemie auf die digitale Lehre. Ich versucht dann überzuleiten auf den Hauptteil, die Versprechen der digitalen Bildung. Das ist ein theoretisch-philosophisches Konstrukt. Ich finde es wichtig, um sich grundlegende Gedanken zu machen: Wie stellen wir uns die Hochschule der Zukunft vor? Wie wollen wir digital lehren und lernen? Da ist vieles gerade im Umbruch und Neues oder Veränderung kündigt sich an. Dabei finden wir sehr starke argumentative Muster, die immer wiederkommen. Ich werde einen Blick in die Vergangenheit werfen, um bestimmte Muster herauszuarbeiten, die uns deutlich machen, in welchem Gewand die Versprechen digitaler Bildung auftreten. Mit diesem theoretischen Futter können wir dann in den dritten Teil einsteigen, wo es darum geht, wie kann es weitergehen? Ich habe Entwicklungsphase für die digitale Hochschullehre genannt.
Teil 1: Covid-19 und digitale Lehre
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hatte ein großes Interesse an den Auswirkungen der Pandemie auf die Hochschulen. Wie gehen sie mit der Pandemie um? Ich war während meiner Zeit bei VDI/VDE-IT an der Studie – Die Rolle intermediärer Hochschuleinrichtungen bei der Bewältigung der Corona-Krise – beteiligt. Mir war dabei wichtig, eine Phase „Prä-Corona“ vorzuschalten. Also Hochschulen haben sehr unterschiedliche Erfahrungen gesammelt mit digitalen Formaten, mit digitaler Lehre oder E-Learning bis zum Ausbruch der Pandemie. Das konstituiert die Hintergrundfolie vor, der wir Bewältigungsstrategien bzw. das Krisenmanagement bewerten können. Eine Hochschule mit weniger Erfahrung tun sich erwartungs- und erfahrungsgemäß schwerer als diejenigen, die schon mehr Erfahrung haben. Und das haben wir alle erlebt, während der Phasen.
Nach der unmittelbaren Krisenintervention, während der es eine sehr erstaunliche Beweglichkeit und Flexibilität der Hochschulen gab, hat man schnell versucht, sich in dieser neuen Situation einzurichten. Die Normalisierung oder das „New Normal“ ist allerdings problematisch, da oftmals nur analoge Formate eins zu eins übertragen wurde ins Digitale – eine im wortwörtlichen Sinne „Digitalisierung“.
Das sind natürlich ganz neue Probleme aufgekommen, z.B. die schwarzen Kacheln – dazu schreibt die taz am 27.0.2021 „Das Studium gleicht momentan einem Abgrund. Einem Abgrund aus digitalen schwarzen Kacheln. Läuft es so weiter, könnten ganze Jahrgänge verloren gehen“ oder die Zoom-Fatigue. Es war keine Zeit, um sich konzeptionelle Gedanken zu machen: Welche Formate machen jetzt für welche Lernziele Sinn? Und je länger die Pandemie dauerte, desto größer wurde dann auch die Sehnsucht nach Normalität, d.h. der Rückkehr zur Präsenz. Gleichzeit galt es auch, die gemachten positiven Erfahrungen – viele Lehrenden sind ungeachtet der jahrzehntelangen E-Learning-Entwicklungen zum ersten Mal mit digitalen Formaten in Berührung bekommen – irgendwie beizubehalten und fortzuführen und das mit einer Kombination des Bewährten. Für diese Herausforderung bürgerte sich der Begriff „Hybride Lehre“ ein.
Während es seit Beginn der Pandemie viel Diskussion um die Schließung der Schulen gibt bzw. dass diese unbedingt verhindert werden müsse, war die Debatte um die Öffnung der Hochschulen merkwürdig leise. Bundespräsident Steinmeier setzte im April 2021 darum ein Zeichen, als er während seiner Rede in der Berliner Humboldt Universität bemerkte:
„Aber vielleicht beschreibt all das Ihre Lage ja ganz gut. (…) Sie aber sitzen fest. Weit entfernt voneinander. Und meistens vor dem Bildschirm. Sie sitzen fest auf der Lebens- und Karrieretreppe und fragen sich, wohin sie führt. Nach oben? Oder nach unten? Sie fühlen sich in Ihren Plänen und in Ihrem Leben ausgebremst (…).“
https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Termine/DE/Frank-Walter-Steinmeier/2021/04/210412-Rede-Studierende.html
Je länger die Pandemie andauerte und je drängender die Wieder-Öffnung der Hochschulen wurde, desto deutlicher zeichneten sich zwei Lager ab, die ich hier etwas überzeichnet vorstellen möchte. Die eine Seite betont die Notwendigkeit der Fortführung digitaler Lehre, um Lehre überhaupt stattfinden zu lassen, also als unmittelbares Mittel zur Pandemie-Bekämpfung. Mit dem Rückgang der Pandemie – auch wenn es gerade schwer vorstellbar ist – würde dann auch die Notwendigkeit zum Einsatz digitaler Technologien wegfallen. Doch die Befürchtung ist, dass die Digitalisierung zum Selbstzweck wird und „schleichend“ weitergeführt wird. Die andere Seite möchte schnell zurück zur Präsenz und setzt diese mit entsprechenden Hygienekonzepten um. Ganz auf digitale Formate will man aber auch nicht, allerdings nur dort. wo sich diese „bewährt“ haben. Diese Bewährung fand allerdings während einer Krise statt und kann damit nur eingeschränkt aussagekräftig für Evaluationen sein.
Zu fragen wäre deshalb grundlegend nach den Erfahrungen der Hochschulen mit E-Learning vor COVID-19 und wie belastbar diese Erfahrungen für die Ableitungen von Maßnahmen oder Strategien zur digitalen Lehre sind. Es gibt in der Literatur einige Hinweise auf das, was ich als „Erbe des E-Learning an deutschen Hochschulen“ bezeichne, .z.B.:
“Der Prozess, in dem sich Hochschulen digitalisieren, bietet ein komplexes und widersprüchliches Bild.” (Neuhausen, 2018)
„In der systematischen Reflexion dieser Debatten [über E-Learning, “Neue Medien”] auch im zeitlichen Verlauf wird deutlich, dass in Hochschulen eher Geschichten über die innovative Kraft technologischer Entwicklungen oder über neue Anforderungen an hochschulische Akteure erzählt werden, als dass Spezifika der Bildungsorganisation Hochschule reflektiert oder hinter tiefergehende Strukturen technologischer Trends geblickt wird.“
(Hofhues & Schiefner-Rohs, 2020, S. 23)
Mit dem zweiten Zitat wird ein Schlaglicht auf die konservativen Strukturbedingungen von Hochschulen geworfen. So wurde und wird E-Learning / digitale Lehre in aller Regel so eingesetzt, dass damit der Kern und die Funktionsprinzipien der Hochschullehre nicht berührt oder herausgefordert werden. Vielmehr werden neue Entwicklungen domestiziert und in die bestehenden Strukturen eingehegt (siehe unten: Skeuomorphismus).
Während der Pandemie zeichnet sich ein Bild ab, das sich in die Beobachtungen von Neuhausen (2018) und seinem Zitat einordnen lässt:
„Die Ad-hoc-Umstellung auf Online-Lehre zeigte eine Beweglichkeit und Agilität der deutschen Hochschulen, die vermutlich vor der Corona-Pandemie die wenigsten für möglich gehalten haben. (…)
Viele Erkenntnisse, die seit langem in der Expert*innen-Community diskutiert werden, scheinen noch immer einen erheblichen Teil der Lehrenden nicht zu erreichen.“
(Friedrich, Neubert, & Sames, 2021)
Die Versprechen der digitalen Bildung
Damit leite ich über zum zweiten Teil des Vortrags. Zu klären ist, was genau mit den Versprechen gemeint ist. Ich schlage dazu folgende Definition vor:
Das „Versprechen digitaler Bildung“ ist eine argumentative Strategie zur Durchsetzung von Interessen in einer eng verflochtenen Konstellation von Bildung, Technologie, Politik und Gesellschaft. In Erscheinung getreten ist sie vor ca. 100 Jahren und wurde seither mehrmals erfolgreich eingesetzt. Dabei ging und geht es um die Herstellung neuer pädagogischer Realitäten mit Hilfe von technologischen Lösungen. Im Mittelpunkt steht dabei ein „heldenhafter Entwickler“ mit einer „charismatischen Technologie“.
Diese rhetorische Figur lässt sich anhand von drei Beispielen aus der Zeitgeschichte illustrieren. Es handelt sich dabei um spezifische Manifestationen der Argumentation und macht deutlich, welche Überzeugungskraft entwickelt werden kann durch die geschickte Verflechtung von politischen Interessen, technologischer Innovation und gesellschaftlicher Resonanz.
Das erste Beispiel geht in das Jahr 1923 zurück und wird durch folgende Aussage von Thomas A. Edison ausgedrückt.
Hier ging es um die Innovation Bewegbilder / Film, die als effektiveres Medium als das klassisches Schulbuch betrachtet wurden. Die Vorhersagen von Edison haben sich nicht erfüllt, was ihn nicht davon abgehalten hat, sie an anderer Stelle zu wiederholen (siehe dazu diesen Beitrag von Reich, 2021).
Ein zweites Beispiel betrifft die Lehrmaschinen von Skinner, die in den 1950er und 1960er Jahren für viel Diskussionen in der Bildung sorgten. Ausgangspunkt war die Beobachtung von Skinner während eines Besuches seiner Tochter in der Schule, wo er mit Schrecken feststellen musste, dass die Kinder erst am nächsten Tag eine Rückmeldung auf Aufgaben bekommen hatten. Für ihn, den Lernpsychologen, der in seiner Theorie die Notwendigkeit unmittelbaren Feedbacks stark gemacht hat, ein untragbarer Zustand. Darum machte er sich daran eine Lehrmaschine zu entwerfen und suchte nach kommerziellen Partnern zum Vertrieb an möglichst alle Schulen.
An diesem Beispiel lassen sich die Bestandteile der von mir oben eingeführten Definition der Versprechen digitaler Bildung erläutern:
- Durchsetzung von Interessen: Skinner und die Behavorist*innen hatten das Interesse, Schulunterricht ganz im Einklang mit ihren theoretischen Postulaten umzugestalten; Unternehmen hatten das Interesse an einem profitablen Absatz der Lehrmaschinen als Voraussetzung für deren Massenproduktion; die (Bildungs-)Politik hatten das Interesse, mit Lehrmaschinen ihre Vision des „Vorsprungs durch Technik“ im Wettstreit der Systeme umzusetzen
- Herstellung neuer pädagogischer Realitäten: Skinner und seine Aussicht auf die Versprechen wollten Schule mit der breiten Einführung der Lehrmaschinen umkrempeln und die bisherige Schulpädagogik in die Mottenkiste stecken
- heldenhafter Entwickler: auch hier ein Mann, Skinner
- charismatische Technologie: die Lehrmaschine stand ganz im Zeichen einer technikbegeisterten Gesellschaft, die damit Fortschritt und Wohlstand für alle verband (einen tieferen Einblick in die historischen Hintegründe bietet die Ausstellung „Bildungsschock“, die im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zu sehen war)
Für eine detailliertere Darstellung der Verflechtungen empfehle ich das Buch von Audrey Watters – Teaching Machines. Ebenfalls empfehlenswert ist der Essay Of Flying Cars and the Declining Rate of Profit von David Graeber (2012), da er deutlich macht, dass die technologischen Innovationssprünge entgegen der medialen Darstellung seit den 1950er Jahren zurückgehen.
Für frühere Generationen wurden viele Science-Fiction-Phantasien verwirklicht. Diejenigen, die um die Jahrhundertwende mit der Lektüre von Jules Verne oder H.G. Wells aufwuchsen, stellten sich die Welt von, sagen wir, 1960 mit Flugmaschinen, Raketenschiffen, U-Booten, Radio und Fernsehen vor – und das war so ziemlich das, was sie bekamen. Wenn es im Jahr 1900 nicht unrealistisch war, von Menschen zu träumen, die zum Mond reisen, warum war es dann in den sechziger Jahren unrealistisch, von Jetpacks und Roboter-Wäschemädchen zu träumen?
Ein drittes und letztes Beispiel stammt aus der jüngsten Vergangenheit und dürfte vielen noch sehr präsent sein. Es war die Zeit des MOOC-Hypes, der aus den USA über die Welt schwappte und eine weitere Manifestation der Versprechen digitaler Bildung darstellt.
Wie bei Skinner ist es ein weiterer männlicher heldenhafter Entwickler – allerdings ohne pädagogisch-psychologischen Bezug -, der mit einer charismatischen Technologie (über das Internet verbreitete Vorlesungen) eine neue pädagogische Realität schaffen will. Es gab auch ein starkes politisches Interesse – in Kalifornien sollte durch ein Gesetz ermöglicht werden, dass Leistungen aus MOOCs automatisch in akademisch Kreditpunkte übertragen werden – sowie wirtschaftliche Begierden. Mit Udacity und Coursera entstanden rasch universitäre Ausgründen, die versuchten mit kostenlosen Kursen Gewinn zu erzielen.
Warum treten die Versprechen nicht ein?
Wie die drei historischen Beispiele zeigen sollen, gibt es wiederkehrende Muster der Versprechen digitaler Bildung, die auf gemeinsamen Kriterien beruhen. Was ich in der Analyse bisher nicht behandelt habe ist die Frage, warum die jeweiligen Versprechen nicht eingetreten sind. Zur Erklärung greife ich auf das Buch Failure to disrupt von Reich (2020) zurück und die dort beschriebenen Ansätze Skeuomorphismus und Matthäus-Effekt. Für Reich führen diese im E-Learning / digitale Bildung zu bisher ungelösten bzw. prinzipiell unlösbaren Dilemmas. Das lässt sich am Beispiel des Skeuomorphismus erläutern: Dabei handelt es sich um das menschliche Bedürfnis, dass bei der Neugestaltung (Design) von Objekten, Prozessen oder auch pädagogischen Ansätzen eine möglichst enge Orientierung am Bekannten aus der stofflich-analogen Welt erfolgt.
Im Falle der Missachtung des Skeuomorphismus kann es zur Überforderung durch innovative Ansätze kommen. Das war der Fall bei den ersten MOOCs, die aus Kanada kamen und dem Prinzip des Konnektivismus verpflichtet waren. Umgesetz als cMOOC brach dieses Format mit vielem Bekannten aus der analogen pädagogischen Welt, wie z.B. den vorgegebenen Lernzielen. Stattdessen war jeder Lernende dazu aufgerufen, sich mit anderen über das Internet zu vernetzen und es als offenen kulturellen Raum zu bespielen. Es ähnelt damit sehr der von Stalder beschriebenen Kultur der Digitalität.
Mit meinen eigenen Erfahrungen aus der Teilnahme an einem cMOOC kann ich bestätigen, wie herausfordernd das selbstgesteuerte Online-Lernen ist und wie weit weg es von der akademischen Praxis an Hochschulen war und noch ist. Das Dilemma liegt darin, eine Balance zu finden, zwischen einer zu starken und starren Orientierung an analogen Formaten und der zu radikalen Öffnung. In beiden Fällen geht etwas verloren von den Möglichkeiten des vernetzten Lernens.
Die cMOOCs wurden in Deutschland nur von einer eher kleinen Community rezipiert und als Open Online Course OPOC12 durchgeführt. Dagegen wurden die xMOOCs breit diskutiert und als „Revolution der Bildung“ dargestellt. Tatsächlich wurde die Revolution domestiziert, in dem sich die Innovation (über das Internet verbreitete Vorlesungsaufzeichnungen) eng an den Strukturen der Hochschullehre orientierte. So gesehen ist es auch nicht überraschend, dass heute, über acht Jahre nach ihrem Aufkommen, MOOCs an deutschen Hochschulen kaum noch eine Rolle spielen. Die Strukturen waren zu resistent, um nachhaltige Veränderung in der Art und Weise wie digital gelernt und gelehrt wird herbeizuführen.
Die zweite Erklärung des Scheiterns der Versprechen der digitalen Bildung betrifft den Matthäus-Effekt und ist in der empirischen Bildungsforschung gut belegt. Zu beobachten war er im Kontext der MOOCs in den USA ab 2011/2012.
Ausblick
Was lässt sich nun mit dem Konzept der „Versprechen digitaler Bildung“ anfangen? Es soll als analytisches Instrument Orientierung bieten in aktuellen und zukünftigen Diskursen zur Zukunft der Hochschule. Mit dem Blick zurück in die Vergangenheit lassen sich charakteristische Muster identifizieren und der Fokus auf Technologie einordnen in das Geflecht aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Konkret lässt sich dann etwa fragen:
Den kompletten Foliensatz gibt es hier und ein Audio-Mitschnitt.
Categories: Digital Teaching & Learning
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