Abstract
Vor dem Hintergrund der Lehrerfahrungen während der Pandemie („Remote Emergency Teaching“) und der anhaltenden Diskussion zur Zukunft der Lehre („Hybrid“, „Blended“) unternimmt der Vortrag eine Einordnung und skizziert Konturen einer Hochschulbildung. Es werden zentrale Themenkomplexe wie „IT-Infrastruktur“, „digitale Kompetenzen“ und „Hochschuldidaktik“ beleuchtet und auf Wechselwirkungen eingegangen. Im Kern geht es um die Frage: Wieviel Digitalisierung braucht die Hochschule?
Argumentation
Die Erfahrungen mit der Corona-Pandemie wirkten wie ein Brennglas und stellen eine neue Situation dar. Zum ersten Mal haben Hochschulen flächendeckend digitale Werkzeuge in der Lehre eingesetzt. Auch wenn nicht alles positiv war und es eigentlich nicht um Innovation in der Lehre, sondern um die Sicherstellung der Lehre überhaupt ging, so bedeuten die Corona-Semester, dass auf einer neuen Ausgangslage aufgesetzt werden kann.
Damit zusammen hängt die These: Die Digitalisierung kann ein Treiber für Innovation in der Hochschullehre sein. Sie kann auch ein wirksames Instrument für mehr Qualität sein. Dazu müssen allerdings einige Prämissen berücksichtigt und systematisch in Beziehung zueinander gesetzt werden. Das ist notwendig, um der Komplexität der Digitalisierung gerecht zu werden und um informierte Entscheidungen zu treffen, wie Hochschulbildung in der digitalen Transformation gestaltet sein kann.
Ich werde im Vortrag versuchen eine systematische Einordnung der mit der Digitalisierung verbundenen Anforderungen zu geben.
Beginnen wir mit der Corona-Pandemie als neue Ausgangslage. Es war ein unerwartetes und unverwertbares Ereignis, als im März 2020 die Hochschulen gewissermaßen über Nacht ihre Präsenzlehre komplett auf digitale Formate umstellen mussten. Es gab keine Vorbereitungszeit und nur in begrenzten Umfang gab es Vorerfahrungen der Hochschulen mit digitaler Lehre bzw. E-Learning. Denn ungeachtet der vielen Förderprojekte seit den 1990er-Jahren blieb das E-Learning ein Nischenphänomen und nur für wenige Lehrende eine Alternative bzw. Ergänzung zur Präsenzlehre.
Unsere Analyse ergab, dass überwiegend hybride Szenarien (Blended Learning) in Form von Anreicherungs- und teilvirtuellen Szenarien entwickelt werden, was in Einklang zu den Ergebnissen der internationalen CHEPS-Studie steht (…). Die digitalen Medien werden vorrangig zur Flexibilisie- rung der Lehre eingesetzt, wobei auch eine Verbesserung der Lehrqualität ange- strebt wird. Das Potenzial der digitalen Medien – erhöhte Verfügbarkeit, größere Anschaulichkeit und Unterstützung selbstorganisierten Lernens, aber auch neue Formen der netzgestützen Kommunikation und Kooperation – wird von den Projekten als wichtig erachtet und großteils umgesetzt.
Rinn, Ulrike und Bett, Katja, „Revolutioniert das ‚E‘ die Lernszenarien an deutschen Hochschulen? Eine empirische Studie im Rahmen des Bundesförderprogramms ‚Neue Medien in der Bildung‘“, 2004, doi: 10.25656/01:11294.
Hinzu kam, dass die Corona-Pandemie die Hochschulen zu einer Zeit tiefgreifender Umbrüche (z.B. Globalisierung, Digitalisierung) getroffen hat, die zu veränderten Anforderungen in einem als volatil, unsicher, komplex und uneindeutigen bezeichneten Umfeld führen. Vor diesem kurz angerissenen Hintergrund wurde die rasche Umstellung einhellig als Erfolg bezeichnet. Es stand durchaus zu befürchten, dass die Hochschulen zu träge und zu langsam für solche Notfallsituationen sind. Bei dem sog. Remote Emgerceny Teaching ging es dann auch in erster Linie darum, die Lehre grundlegend sicherzustellen. Es konnte nicht um Transformation der Lehre gehen, was sonst als Ziel der Digitalisierung immer wieder genannt wird. Eine Auswahl an Erfahrungen mit digitaler Lehre während der Pandemie gibt es beispielsweise hier. In einer anderen Studie wurde kritisch die Frage aufgeworfen, inwieweit die im Zuge der Krisenbewältigung angestoßenen Maßnahmen auf Dauer weiterfühlbar sind. Können für die Beibehaltung und Weiterführung technischer Ausstattung und / oder personeller Ressourcen ausreichend Finanzmittel bereitgestellt werden?
Die Frage ist somit, inwieweit in den vergangenen zwei Jahren so etwas wie eine neue Lernwelt an den Hochschulen entstanden ist. Können wir schon berechtigterweise von einem New Normal sprechen? Ich bin, wie auch hier argumentiert wird, skeptisch, da die Voraussetzung sehr besonders waren, um hier aussagekräftige Schlussfolgerungen zu ziehen.
Diese Dringlichkeit und der Mangel an Vorbereitungszeit führten dazu, dass das Lernen und Lehren im Rahmen der Pandemie die Phasen der Panik (Umstellung auf Online in wenigen Tagen), des Überlebens (Ausharren und Aushalten in einer digitalen Online-Umgebung in den folgenden Monaten) und des Durchhaltevermögens (Planung und Entwicklung von Online-Lernen für einen längeren Zeitraum) durchlief. Mit dem Fortschreiten der Pandemie ist das Online-Lernen zur „neuen Normalität“ geworden, was Anbieter, Institutionen, Lehrende und Lernende dazu veranlasst, sich auf diese veränderten Lebens-, Lern- und Arbeitsweisen einzustellen, sich darauf einzulassen und Formate dafür zu entwickeln.
R. T. Nørgård, „Theorising hybrid lifelong learning“, Br J Educ Technol, Bd. 52, Nr. 4, S. 1709–1723, Juli 2021, doi: 10.1111/bjet.13121.
Wie lässt sich nun mit dem Schwung aus der Corona-Pandemie umgehen, so dass nachhaltige strukturelle Veränderungen vorgenommen werden können, mit denen ein Qualitätssprung in der Lehre möglich ist? So hat es der Wissenschaftsrat in seinen Empfehlungen für eine zukünftige Ausgestaltung von Studium und Lehre formuliert. Auf der einen Seite scheint die Gelegenheit für Reformen gerade günstig zu sein, auf der anderen Seite stecken die Hochschulen in einer Melange aus Krisen (mit der Energiekrise als jüngste Herausforderung) fest. Notwendig sind aus meiner Sicht grundlegende Überlegungen und eine kritische Reflexion bestimmter Prämissen, die mit der Digitalisierung der Hochschullehre eng verbunden sind. Darauf gehe ich nun genauer ein.
Ich bin überzeugt, dass die Digitalisierung ein Treiber für Innovation und Transformation im Hochschulbereich sein kann und ein wirksames Instrument für den oben genannten Qualitätssprung. Dabei helfen die jüngsten Erfahrungen der Bewältigung der Corona-Krise sowie die weiter zurückliegenden E-Learning-Erfahrungen. Es gibt jedoch keinen Automatismus, wonach mehr Digitalisierung zu mehr Qualität in der Lehre führt. Das ist eine unterkomplexe Behauptung und vernachlässigt wichtige Prämissen.
Eine sehr grundlegende Prämisse berührt die Hochschulen im Kern und verlangt nach einer (Selbst-)Verständigung zur Rolle und Aufgabe von Hochschulen in der digitalen Gesellschaft. Grob vereinfacht lassen sich zwei Leitbilder unterscheiden.
Auf der einen Seite steht das klassische Bildungsideal, das ebenfalls während einer Krisenzeit entstand, prinzipielle Leitgedanken zur inneren und äußeren Gestaltung der Hochschulen formuliert. Dazu gehört das Bekenntnis zu Wissenschaft bzw. die Bildung durch Wissenschaft. Mit einer ausreichenden Finanzierung durch den Staat können sich Universitäten auf ihre Aufgaben in Wissenschaft und Bildung fokussieren. Heute wird darauf gerne Bezug genommen, auch um an das gewaltige Erbe Humboldts anknüpfen zu können. Gleichzeitig ist die äußere Lage der Hochschulen heute sehr prekär, insbesondere für den Mittelbau. Auch hat sich die von Humboldt beschworene Einheit von Forschung und Lehre aufgelöst und gegeneinander ausgespielt. So spielen beispielsweise die Forschungsergebnisse auf dem Weg zur Professur eine weit größere Rolle als die Lehrleistungen.
Weiterhin haben Hochschulen nun auch eine Ausbildungsaufgabe, die darin besteht, Menschen bestmöglich auf die Herausforderungen einer immer komplexeren und unsicheren Welt vorzubereiten. Das klingt doch nach Bildung, oder? Tatsächlich geht es aber nicht um Bildung als Selbstzweck wie noch von Humboldt gefordert, sondern als Mittel zum Zweck.
An den Hochschulen werden Kompetenzen für die digitale Welt erworben, welche die Teilhabe an einer zunehmend digital geprägten Gesellschaft ermöglichen. Sie [die Hochschulen] übernehmen eine Qualifikationsfunktion für den Arbeitsmarkt der Zukunft, verfügen über eine hohe Innovationskraft, etwa bei der Weiterentwicklung digitaler Technologien, und von ihnen geht eine Hebelwirkung für viele wirtschaftliche Bereiche aus (…).
Wissenschaftsrat, „Empfehlungen zur Digitalisierung in Lehre und Studium“, German Science and Humanities Council, Köln, 2022. Zugegriffen: 6. November 2022. [Application/pdf]. Verfügbar unter: https://www.wissenschaftsrat.de/download/2022/9848-22.html
Da die Hochschulen nicht im bildungsidealistischen Raum agieren, sondern ein gesellschaftlich relevanter Akteur sind, ist als weitere wichtige Prämisse eine Haltung zur Digitalisierung zu entwickeln. Wie ich oben bereits angedeutet habe, ist die Digitalisierung keine außerhalb der Gesellschaft stehende Kraft. Digitalisierung ist vielmehr ein diskursives Konstrukt, in dem sich bestehende Machtverhältnisse widerspiegeln. Um dies etwas mehr zu verdeutlichen, möchte ich aufzeigen, wie sehr eine bestimmte Meinung (akzeptierte Orthodoxie) über die Wirkung von Technologien in der Bildung die Debatten seit sehr langer Zeit bestimmt.
Seit fast hundert Jahren lassen sich Beispiele finden, bei denen die herrschende Meinung, wonach Technologie die Bildung grundlegend verändern, artikuliert wurde und es anschließen nicht zu den prophezeiten Veränderungen kam. So behauptete etwa Thomas A. Edison in den 1920er-Jahren:
Ich glaube, dass die Filme gerade erst begonnen haben, und ich bin der Meinung, dass die Kinder in 20 Jahren durch Bilder und nicht durch Lehrbücher unterrichtet werden.
https://virginiachronicle.com/cgi-bin/virginia?a=d&d=HR19230518.2.11&e=——-en-20–1–txt-txIN——–
Als in den 1950er- und 1960er-Jahren der Behaviorismus die Lernpsychologie dominierte, wurden Lehrmaschinen mit der Intention, die Schule zu revolutionieren entwickelt. Detailliert zeichnet Audrey Watters in ihrem Buch Teaching Machines die Verflechtung zwischen der Lehrmeinung und wirtschaftlichen und politischen Interessen nach. Entgegen den Verheißungen hielten die Lehrmaschinen nicht großflächig Einzug in die Schulen.
Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit sind die Massive Open Online Courses (MOOCs), die von renommierten Hochschullehrenden kostenfrei über das Internet angeboten wurden und wieder einmal die Frage aufwarfen, wie zeitgemäß Hochschulen noch sind. Von Sebastian Thrun ist überliefert, dass er nach seinen ersten Erfahrungen mit MOOCs seine Rolle als Dozent an einer Eliteuniversität grundlegend überdachte.
Nachdem ich das getan habe, kann ich nicht mehr in Stanford unterrichten.“ (…) Sie können die blaue Pille nehmen und zurück in Ihr Klassenzimmer gehen und Ihren 20 Studenten[innen] Vorträge halten, aber ich habe die rote Pille genommen und das Wunderland gesehen.
https://www.fastcompany.com/3021473/udacity-sebastian-thrun-uphill-climb
Dieses Erweckungserlebnis scheint immun gegenüber den Fakten zu sein, die den Versprechungen, wonach MOOCs die Hochschulbildung tiefgreifend verändern, entgegen stehen. Zehn Jahre nach dem Year of the MOOC hat sich diese Form des E-Learning selbst transformiert.
Im abschließenden Teil versuche ich die neue Ausgangslage mit den kurz eingeführten und diskutierten Prämissen zusammenzubringen und Ansatzpunkte für die Umsetzung digitaler Lehre zu identifizieren.
Ohne eine ausreichende Klärung von Begriffen, Konzepten, Anforderungen und Wirkannahmen läuft jede weitere Form des digital unterstützen Lehrens in die Falle der nicht erfüllbaren Versprechen. Am Beispiel des Konzepts „hybride Lehre“ zeigt sich, wie wichtig die Klärung und Übersetzung auf die eigenen Ziele ist. Wie diese Taxonomie deutlich macht, gibt es viele Möglichkeiten der Gestaltung mit jeweils eigenen Anforderungen. Sobald diese Anforderungen nicht erfüllbar sind, birgt es Gefahr, die nicht gewünschten Effekte zu erzielen.
Aus einer grundlegenden Perspektive betrachtet, stehen nun strategische Entscheidungen für die Hochschule der Zukunft an.
Für jede Entscheidung ergibt sich ein bestimmtes Produkt, etwa eine Hochschul- Lehr- oder Digitalisierungsstrategie. Daraus ergibt sich ein Leitbild mit konkreten Anforderungen für Servicestrukturen. Durch die zunehmende Verbreitung digitaler Technologien macht es Sinn, Serviceangebote nicht nur pro Hochschule (wie etwas Learning oder Campus Management Systeme), sondern hochschulübergreifend auf Landesebene anzubieten (z.B. eine landesweite Möglichkeit, offene Bildungsinhalte an einem zentralen Ort abzulegen oder zu suchen). Zusammen können die neuen Angebote und strategischen Ziele zu Veränderungen in der Lehr- / Lern- und Arbeitskultur führen. So können z.B. neue didaktische Formate entwickelt werden, mit denen das bisherige Lehrangebot transformiert wird. Darauf abgestimmt erfolgt dann der Einsatz oder die (Eigen-)Entwicklung von Technologien, um der Gefahr zu entgehen, durch (kommerzielle) Produkte das didaktische Szenario konterkarieren zu lassen.
Wie in der Abbildung oben zu sehen, ist eine gute und leistungsfähige technische Basis eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung für eine Transformation der Hochschullehre.
Categories: Keynote
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