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Humboldt digital ?! – Zwei Entwicklungslinien des E-Learning seit 2000

Ich wurde von der Arbeitsgruppe Bildung der Friedrich-Naumann-Stiftung eingeladen einen Vortrag für ein Wochenendseminar zum Themenbereich „Humboldtsches Bildungsideal“ beizusteuern. Mein Beitrag soll dabei auf Bildung im Zeichen des digitalen Wandels eingehen und eine Brücke schlagen zwischen dem im Seminar vorher erarbeiteten Bildungsideal /Bildungsbegriff und den Veränderungen der heutigen Zeit.

Ich werden mich dabei vor allem auf die Veränderungen in der Hochschullehre, dies grob vereinfacht verstanden als Vermittlung von Bildung durch E-Learning seit dem Jahr 2000 konzentrieren.

Vorab kurz zu meinem Bildungsverständnis. Für mich ist Bildung ein diskursives und kontingentes Konstrukt, d.h. es ist nicht eindeutig zu bestimmen oder zu fassen und abhängig von Interessen- und Herrschaftsverhältnissen. Bildung entzieht bzw. verweigert sich einer (zu) eindeutigen Festlegung und diese Offenheit ist wiederum der Motor für den speziellen Diskurs über Bildung mit einer langen Tradition (siehe hierzu im Detail [1]).

Zurück zur eigentlichen Fragestellung, argumentiere ich, dass sich ab dem Jahr 2000 zwei unterschiedliche und getrennt verlaufende Entwicklungslinien des E-Learning herausschälten. Bis 2000 gab es vielfältige Experimente zum computergestützten Lehren und Lernen mit dem Ziel, die Lehre dadurch anzureichern bzw. zu verbessern, z.B.:

  • aufwendig erstellte multimediale Selbstlernkurse
  • virtuelle Lernangebote, etwa synchrone Übertragung von Vorlesungen an mehrere Standorte

Verbunden war dies mit der großen Hoffnung, E-Learning als Treiber für Innovation im arg verkrusteten Bildungssystem in Deutschland nutzen zu können. So schreiben etwa Issing und Schaumburg Anfang der 2000er-Jahre

Zu lange wurde der Computer in Deutschland als Bedrohung für Kultur und Bildung angesehen. [2]

Die zwei Entwicklungslinien, die ich nachfolgend genauer beleuchte, lassen sich in das instruktionale E-Learning und das offene E-Learning unterscheiden. Für beide Perspektiven gab rund um das Jahr 2000 charakteristische Ereignisse. So zum einen die große Förderausschreibung „Neue Medien in der Bildung“. Hier unterstützte das Bundesministerium für Bildung und Forschung zwischen 2000 und 2004 100 Verbundprojekte und 500 Hochschulprojekte finanziell (Gesamtetat 185 Millionen Euro), um mit großem Programmieraufwand multimediale Lernumgebungen oder -portale zu entwickeln [3]. Viele dieser Vorhaben verfolgten einen instruktionalen Ansatz, bei dem Inhalte im Vorfeld konzipiert, multimedial produziert, didaktisch aufbereitet und über eine zentrale Plattform vertrieben wurden. Im Nachgang wurde durch Evaluation getestet, welche lernförderlichen Effekte die Umgebungen hatten.

Für das offene E-Learning einschlägig war die Entscheidung des Massachusetts Institute of Technology (MIT) im Jahr 2001, ab sofort die allermeisten Kursinhalte und -kataloge frei zugänglich über das Internet zu veröffentlichen. Kurz danach, im Jahr 2002, wurde bei einer von der UNESCO organisierten Tagung der Begriff „Open Educational Resources (OER)“ in die Welt gesetzt. OER wurden definiert als

The open provision of educational resources, enabled by information and communication technologies, for consultation, use and adaptation by a community of users for non-commercial purposes. [4]

Auch hier gab es wie beim instruktionalen E-Learning vorab Produktionen der Inhalte, allerdings war die Distribution auf eine Nachnutzung und Veränderbarkeit des Materials angelegt. Dazu notwendig war eine Lizenz, die großzügige Nutzungsmöglichkeiten einräumte und später als 5 R-Freiheiten bzw. 5 V-Freiheiten bekannt wurde. Dadurch sind die mit OER verbundenen Ziele auch progressiver als die des instruktionalen E-Learning und auf eine Transformation des Bildungssystems ausgerichtet.

Auf weitere Unterschiede gehe ich im folgenden Abschnitt ein.

Hintergründe

Das instruktionale E-Learning ist eng verknüpft mit dem Instructional Design (ID), einem aus den USA stammenden technokratischen Wissenschaftszweig zur Gestaltung von möglichst lernförderlichen Umgebungen durch den Einsatz instruktionaler Medien. Bereits vor 100 Jahren gab es Bestrebungen, die neuen technologischen Möglichkeiten (z.B. Fotographien, Radio, Fernsehen) als Mittel zur Förderung der Bildung einzusetzen und damit auch neue Zielgruppen zu erreichen.

Instructional Design wurde durch den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg maßgeblich vorangetrieben. Es gab einen sehr großen und schnell zu erfüllenden Bedarf gut ausgebildeter Menschen. Dafür wurde ein systemsicher und systematischer Ansatz (Analyse, Entwicklung, Design, Implementation, Evaluation) entwickelt und in der Nachkriegszeit (und bis heute) immer weiter verfeinert [5]. Sehr einflussreich war der sog. Sputnik-Schock, aus dem ein Bildungsschock wurde und zu enormen Investitionen in die Bildung führte. Wissenschaft, Bildung und Lernen entwickelten sich dadurch zu einer Grundbedingung von Wachstum. Mit der Bildungsexpansion in den 1960er und 1970er Jahren gingen soziale Reformen einher, etwa der Übergang von der hierarchischen Ordinarien- zur demokratischen Gruppenuniversität.

Der Glaube an die Kraft von Technologien zur Verbesserung gesellschaftlicher Systeme wie der Bildung war sehr stark und führte unter anderem zum Aufkommen der Lehrmaschinen / Teaching Machines, die in einem sehr lesenswerten Buch von Audrey Watters beleuchtet werden [6].

Ein weiteres wesentliches Charakteristikum des instruktionalen E-Learning betrifft die starke Ausrichtung auf empirische Lehr- und Lernforschung. Insbesondere Erkenntnisse aus der Lernpsychologie wurden aufbereitet zu pädagogischen Prinzipen beim Design von Lernumgebungen. Ziel war es,

Unterrichtsabläufe in schematische, formelhafte, generalisierbare Strukturen zu überführen und allgemeingültige Sätze über das Lernen zu formulieren. [7]

Die Präferenz für eine bestimmte Lerntheorie spiegelte den jeweiligen gesellschaftlichen Zeitgeist wider. So war in den 1950er- und 1960er-Jahren der Behaviorismus ein Ausdruck industrieller Gesellschaften, in denen Input in Maschinen gegeben wurde und diese darauf eine bestimmte Reaktion zeigten. Der darauf folgende Kognitivismus griff die Kritik am Behaviorismus – die Lernenden werden auf eine passive Rolle reduziert – auf und öffnete die Black Box der Denk- und Verstehensprozesse, die beim Lernen stattfinden. Ab den 1990er-Jahren, mit dem Aufkommen des World Wide Web, trat eine dritte Lerntheorie hervor, die bereits in den 1960er-Jahren entwickelt wurde, der Konstruktivismus. Dabei wird Wissen nicht einfach von einer Person (Lehrkraft) an eine andere übermittelt (wie etwa bei der Vorlesung), sondern individuell konstruiert und ist eingebettet in kulturelle und soziale Beziehungen. Der Lernende sollte in das Zentrum gestellt werden – eine auch heute weitverbreitete Floskel – , um Wissen aktiv und partizipativ zu generieren. Die Kritik an klassischen Vermittlungsmodellen (Klassenzimmer, Hörsaal) war offensichtlich und Web-basierte Lernumgebungen wurden als Mittel für innovative pädagogische Modelle genutzt. Beispielswiese konnte mit Hypertext nicht-lineare Settings in einer explorativen und weniger direktiven Weise verwendet werden. Auch sollten mit konstruktivistischen Ansätzen Hierarchien der Wissensvermittlung überwunden werden, hin zu beispielsweise dialogischen Formaten. Es gibt eine Reihe von pädagogischen Modellen, die sich unter dem Begriff Konstuktivismus subsumieren lassen, die allerdings keiner Theorie im strengen Sinne folgen, und von denen die bekanntesten Problem-basiertes Lernen und Community of Practice sind.

Für das offene E-Learning war wie oben erwähnt die Entscheidung des MIT zur Veröffentlichung (fast) aller Kurse über das Web zur kostenfreien Nutzung für alle Interessierte das ausschlaggebende Ereignis. Wie der UNESCO-Bericht Forum on the Impact of Open Courseware for Higher Education in Developing Countries im Jahr 2002 festhält, ist Wissen zu einer starken Kraft des globalen Wandels geworden. Damit stellte sich unmittelbar die Frage des Zugangs zu Wissensbeständen, die oft in der Hoheit von Verlagen, Hochschulen oder anderen Organisationen lagen und für die es noch keine legalen und technischen Möglichkeiten der weltweiten Verteilung gab. Das Internet eröffnete alternative Formen des Teilens von Wissens, die bislang undenkbar erschienen. Auch stellte sich das MIT dem damals starken Trend zur Kommerzialisierung von Wissen, befeuert durch den sog. Dot-Com-Boom, entgegen. Es war eine „unerhörte Begebenheit“, dass eine renommierte Institution ihr Tafelsilber kostenfrei hergab. Allerdings betonte das MIT, dass es sich dabei nicht um belegbare Online-Kurse im Sinne eines Fernstudiums, handelte, sondern um Bestandteile des Lernens, die in pädagogischen Kontexten weltweit einsetzbar sind. Damit die Ressourcen rechtlich unbedenklich nutzbar sind, brauchte es eine offene Lizenz. Offen heißt aber nicht, dass damit das Urheberrecht ausgehebelt werden soll. Es geht nicht um eine Enteignung des geistigen Eigentums, sondern darum bei ausdrücklicher Wahrung der Urheberschaft die Nutzung und das Teilen von Materialien zu erlauben. Dafür gibt es u.a. die Creative-Commons-Lizenzmodelle.

Entwicklungsverläufe bis heute

Für das instruktionale E-Learning von großer Bedeutung war das Aufkommen der Learning Management Systemen (LMS), die es Lehrkräften erlauben, standardisierte Formen des E-Learning in einem Baukastensystem an einem digitalen Ort zu nutzen. Damit konnte das analoge Lehrgeschehen digital abgebildet werden – eine attraktive Option für digital weniger erfahrene Lehrende. Eng verbunden damit war und ist das sog. Blended Learning, eine Kombination aus Präsenz- und Online-Phasen. Zwischen den Präsenzterminen arbeiten die Lernenden mit einem LMS und können sich dabei die Lernzeit selbst einteilen. Blended Learning war eine wirksame Antwort auf die Kritik am E-Learning (z.B. fehlende soziale Interaktionen) und konnte so auch innovationshemmend wirken, da mehr oder weniger alles beim alten blieb. 2016 fasste e-teaching.org in einem Themenspecial die Kritik an LMS zusammen, wobei auch die Frage aufgeworfen wird, inwieweit LMS zum Bildungsverständnis der Hochschule passen.

Learning Management Systeme sind durch ihre Vorkonfiguration beliebt und erlauben es, E-Learning zu skalieren. Ab 2011/12 wurde dieser Aspekt durch die Massive Open Online Courses (MOOCs) auf die Spitze getrieben. Was war passiert? Zwei Professoren der Stanford University öffneten ihren Kurs „Introduction to Artificial Intelligence“ weltweit und zogen damit 160.00 Lernende an, von denen wiederum 23.000 an einer Online-Abschlussprüfung teilnahmen – mehr als an der gesamten Hochschule Studierende eingeschrieben waren [8]. Ähnlich wie die Entscheidung des MIT zehn Jahre zuvor, war dies auch eine unerhörte Begebenheit und sorgte allerdings weit mehr als bei den Open Educational Resources für einen Hype. Die Popularität der MOOCs gründete sich auf der Kritik, dass es an den Hochschulen heute mehr oder weniger genauso zu geht wie vor 500 Jahren (eine Behauptung, die etwa vor dem Hintergrund der Bologna-Reform nicht haltbar ist). Das sollte sich durch die MOOCs ändern – einige Medien sprachen von einer Bildungsrevolution. Paradoxerweise sollte die Revolution mit den gleichen Mittel durchgeführt werden, für die zuvor die Hochschulen kritisiert wurden. Im Kern waren es abgefilmte Vorlesungen, die auf einem LMS der ganzen Welt offen standen. Im Zentrum standen also nicht unbedingt pädagogische Innovationen, sondern Möglichkeiten, wie mit MOOCs Geld verdient werden kann. Im Zuge des Aufkommens von Plattformen wie Uber, Netflix oder AirBnB wurde laut darüber nachgedacht bzw. je nach Standpunkt auch mit finanziellen Mitteln unterstützt, wie das Plattform-Modell für die Bildung nutzbar gemacht werden kann (siehe hier z.B. Netflix for Education). Ein solch tiefgreifender Umbau gesellschaftlicher Institutionen durch digitale Technologien und wirtschaftliche Modelle lässt sich auch als „Modernisierung auf Steroid“ verstehen [9].

Ein weiterer Trend des instruktionalen E-Learning ist das mobile Lernen / Mobile Learning (M-Learning) – „ein Sammelbegriff für unterschiedliche Lehr-Lern-Prozesse in formalen und informalen Bildungskontexten, die zielgerichtet durch mobile Informations- und Kommunikationstechniken unterstützt und ergänzt werden“ [9]. Bedingt durch die hohe Dynamik bei der Herstellung mobiler Endgeräte und dadurch dass es an empirischen Studien fehlt, sind die Lerneffekte des M-Learning bis heute nur schwer einzuschätzen.

Schließlich gibt es Ansätze des personalisierten bzw. adaptiven Lernens, die sich als Form des instruktionalen E-Learning verstehen lassen. Die Idee dahinter ist, dass mit digitalen Plattformen die Instruktion sich nicht am Durchschnitt der Klasse, sondern an den individuellen Bedürfnissen des Lernenden orientiert. Die Vermittlung der Inhalte und Aufgaben wird vom Lehrenden an eine „intelligente“ Maschine übertragen – eine Rollenverschiebung vom Sage on the Stage zu einem Guide on the Side. Technisch bauten einige adaptive System auf den LMS auf, wie etwa das Projekt INTUITEL (Intelligent Tutoring Interface for Technology Enhanced Learning), mit dem Ziel, eine neuartige adaptive Lernumgebung, die von einer Künstlichen Intelligenz (KI) gesteuert wird, zu entwickeln und prototypisch zu realisieren. Bislang scheint allerdings noch kein Einsatz jenseits prototypischer Erprobung in der Hochschullehre erfolgt zu sein.

Für das offene E-Learning waren nicht so sehr technische Entwicklungen (wie beim instruktionalen E-Learning), sondern sozio-politische Faktoren wichtig. So etwa die Cape Town Open Education Declaration von 2007 oder die Paris Declaration von 2012. Gefordert werden Maßnahmen zur Förderung von OER auf verschiedenen Ebenen:

  • Rahmenbedingungen für den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien verbessern, um u.a. die digitale Kluft zu überwinden
  • Kapazitäten für die nachhaltige Entwicklung von OER aufbauen (z.B. Qualitätssicherung)
  • Offene Lizenzen für öffentlich finanzierte Lehr- und Lernmaterialien fördern

Die aktuellste Empfehlung ist von der UNESCO aus dem Jahr 2019 und verfolgt fünf Ziele:

  1. Aufbau von Kapazitäten bei den Akteuren, um Zugang zu OER zu schaffen, sie zu nutzen, anzupassen und umzuverteilen
  2. Entwicklung einer unterstützenden Politik
  3. Förderung integrativer und gleichberechtigter OER von hoher Qualität
  4. Förderung der Schaffung von Nachhaltigkeitsmodellen für OER
  5. Erleichterung der internationalen Zusammenarbeit

Die politische Ausrichtung im offenen E-Learning sorgte für einen zum Teil ideologisch aufgeladenen Diskurs. So etwa im Programm „Opening Up Education“ der Europäischen Kommission, bei dem ökonomische Ziele (Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und des Wachstums in der EU) vor pädagogischen Zielen standen. Die digitale Transformation / Digitalisierung sollte dabei als Treiber fungieren, ähnlich wie beim instruktionalen E-Learning mit den MOOCs. Digitalen Technologien wird eine inhärente Kraft zur Innovation von gesellschaftlichen Systemen zugesprochen, die es dann entsprechend umzusetzen gilt.

In Deutschland hat sich das offene E-Learning nur langsam und im internationalen Vergleich verzögert verbreitet. Eine gemeinsame Arbeitsgruppe von Bund und Ländern veröffentlichte 2015 einen Bericht zu OER und empfiehlt als vorrangige Maßnahme „den Aufbau einer neuen bzw. die Unterstützung bereits bestehender Plattformen im Internet, auf der Verweise zu verschiedenen OER-Quellen und, falls sinnvoll, auch OER-Materialien gebündelt bereitgestellt, gefunden und heruntergeladen werden können“.

Erst im Juli 2022 veröffentlichte das Bundesministeriums für Bildung und Forschung eine OER-Strategie und schließt damit sowohl an den Innovations- und Modernisierungsdiskurs der EU als auch an die Intention der UNESCO, mit OER die Bildung chancengerechter zu machen, an. Zuvor hatte es bereits eine erste Bundesförderung für OER-Projekte gegeben, u.a. mit einer zentralen Informationsstelle für OER, die nun wieder aktiviert wird.

Nach wie vor ist in Deutschland die Verbreitung der OER-Idee (Kultur des Teilens) in einer Aufbau- bzw. Initiierungsphase. Notwendig ist dafür, wie im Bericht „German OER Practices and Policy“ beschrieben, ein Zusammenspiel von Top-down- und Bottom-up-Initiativen. Für das föderale Bildungssystem in Deutschland kennzeichnend sind die unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten. So gibt es in einigen Bundesländern (Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen) zentrale Portale für OER mit begleitenden Services, während es andernorts Überlegungen dazu gibt.

Nach vielen Jahren Überzeugungsarbeit liegen die Argumente, Hürden und Potenziale von OER für eine Transformation der Hochschullehre auf dem Tisch. Erforderlich ist eine kontinuierliche Verständigung, wie es konkret umgesetzt werden kann.

Zusammenfassung und Einordnung in das Bildungsverständnis

Das instruktionale E-Learning war zu Beginn der 2000er-Jahre geprägt von der Vorstellung, dass sich die Hochschullehre durch digitale Medien „(…) in einem evolutionären Übergangsstadium befindet, in dem traditionelle und innovative Strukturen nebeneinander existieren“ [11]. Durch die Möglichkeiten zur Flexibilisierung sollte sich auch die Qualität der Lehre erhöhen. Welche Auswirkungen diese und andere Projekte des instruktionalen E-Learning auf das Bildungsverständnis hatten, soll nachfolgend kursorisch erörtert werden.

Die frühen E-Learning-Anwendungen lassen sich – so meine These – als digitale Bildungsreise interpretieren. Mit interaktiven Anwendungen, mit dem Einsatz von Animationen, Simulationen, Videos und Audio sollten neue Lernräume geschaffen werden, die andere Erlebnisse ermöglichen sollten als in den traditionellen Hochschulformaten. Gleichzeitig waren die finanziellen, didaktischen und organisatorischen Anforderungen sehr hoch und abhängig von externen Förderung – einschlägig war dafür die Förderung des BMBF „Neue Medien in der Bildung“. Mit hochwertigen Inhalten und aufwendig produzierten Medien sollten lern- und bildungsförderliche Maßnahmen entstehen. Kennzeichnend dafür ist die Annahme, dass mit neuester Technik per se eine Verbesserung des Lernen möglich ist – auch wenn sich diese Annahme durch viele Studien nicht belegen lässt [12]. Verantwortlich für die ausbleibenden pädagogischen Innovationen war in vielen Fällen eine Tendenz zur Domestizierung, d.h. neue Technologien wurden mit den bisherigen (instruktionalen) Methoden eingesetzt und nicht als Chance verstanden, dadurch didaktische Ansätze weiterzuentwickeln.

Ebenso schwierig gestaltete sich die Pflege und eventuelle Weiterentwicklung der Projekte, da hierfür kein eigenes Budget vorhanden war. Dazu schreiben Haug und Wedekind [13]:

Immer wieder wird man beim Lesen der Projektbeschreibungen von dem großen Optimismus überrascht, was die weitere Nutzung und Pflege der Produkte angeht. Wie selbstverständlich wird davon ausgegangen, dass Produkte und Plattformen von den beteiligten Hochschullehrern auf freiwilliger Basis inhaltlich gepflegt, ständig weiter aktualisiert und erweitert werden.

Die explizite Auseinandersetzung zum Bildungsgehalt des E-Learning wurde darüber hinaus dadurch erschwert, dass E-Learning als Projektionsfläche für Hoffnungen und Ängste benutzt wurde. Wie ein roter Faden ziehen sich die Auseinandersetzungen zwischen Euphoriker/innen und Pessimist/innen durch die verschiedenen Phasen des E-Learning. Was für die einen die nächste Evolutionsstufe der Hochschullehre ist, bedeutet für die anderen einen Rückschritt hin zu sozialer Vereinsamung und schlechteren Lernleistungen. Dazwischen verorten lässt sich eine Perspektive, wonach technologischen Entwicklungen den Takt vor geben und einladen sollen zu didaktischen Innovationen. Hierfür notwendig sind allerdings entsprechende Kompetenzen im Schnittfeld von Technik, Medienproduktion und Didaktik. Als eine Art Hilfskonstruktion findet sich der Begriff „E-Didaktik“, um die Schnittstellenkompetenzen zu beschreiben. In einer Stellenausschreibung der HWR Berlin finden sich Schwerpunkte wie Beratung, Konzeption, Evaluation oder Dokumentation sowie als Voraussetzung einen Abschluss in „Bildungs- oder Medienwissenschaften (Schwerpunkt Mediendidaktik/ Instruktionsdesign), Informatik oder Wirtschafts- bzw. Verwaltungsinformatik“. Neben diesen praktischen Anforderungen auch wichtig ist eine grundlegendere Reflexion der bildungstheoretischen Implikationen einer sich dynamisch verändernden digitalen Welt, wofür es jedoch noch keinen systematischen Ort in der Hochschullehre gibt. Damit gemeint sind Foren, die jenseits von punktuellen Veranstaltungen sich fortwährend damit befassen und versuchen aus eher theoretischen Überlegungen praktische Ableitungen für die Hochschuldidaktik fortzunehmen (Reflexion und Theorie-Praxis-Transfer).

Beim offenen E-Learning gibt es eine offensichtliche thematische Nähe zum Bildungsverständnis, die Auseinandersetzung darüber wird jedoch dadurch herausgefordert, dass (1) die maßgeblichen Entwicklungen im internationalen Bereich stattfanden und (2) der deutsche Bildungsbegriff im Unterschied zu „Education“ nicht rezipiert wird. Welche Anleihen es dennoch beim deutschen Bildungsverständnis gibt, wird beispielsweise in der Cape Town Erklärung zu Open Education (2007) illustriert:

Die noch junge “Open Education” Bewegung verbindet die alte Tradition Wissen und Ideen gemeinsam zu entwickeln und auszutauschen mit den neuen Möglichkeiten der Vernetzung und Interaktivität, die das Internet bietet. Sie basiert auf dem Grundprinzip, dass jeder die Freiheit haben sollte, Bildungsmaterialien zu nutzen, zu verändern, verbessern und weiterzugeben – ohne Einschränkungen. Professoren, Lehrer, Studenten und viele mehr arbeiten gemeinsam in dieser weltweiten Initiative, mit dem Ziel möglichst vielen Menschen Zugang zu Bildung zu ermöglichen.

Cape Town Declaration

Ich habe mich in den vergangenen Jahren daran gemacht, die beiden getrennten Welt „Bildungstheorie in der Akademie“ und „Open Education /OER in der Praxis“ konzeptionell einander anzunähern, z.B. in:

  • Deimann, M. & Farrow, R. Rethinking OER and their use: Open education as Bildung. International Review of Research in Open and Distance Learning, 14(3), 344-360. [PDF]
  • Deimann, M. (2015) Impulse der Open-Education-Bewegung für die Weiterentwicklung des Bildungsbegriffs. In R. Coriand & A. Schotte (Hrsg.), Einheimische Begriffe und Disziplinentwicklung. Jena: Garamond/edition Paideia. [PDF]

Dabei bin ich zu folgender Schlussfolgerung gekommen

In diesem Sinne lassen sich OER und Bildung als verwandte Seelen verstehen, die in einem interdependenten Verhältnis zueinander stehen. Während Bildung den philosophischen Unterbau liefert, sorgen OER für die konkrete Ausgestaltung des Bildungsprozesses, in dem sie aus heutiger Sicht zentrale Fragen des Zugangs zu Bildungsmaterialien umfassend, d. h. ökonomische, technische und juristische Aspekte berücksichtigend, klären. Auf der andern Seite ist jedoch auch klar, dass der unbeschränkte Zugang zu einer digitalen „Weltbibliothek“ noch keine Bildung per se auslöst – eine Tatsache, die von der OER-Bewegung bislang weitgehend unbeachtet blieb.

Deimann, 2015, p. 244

Das Bildungsverständnis hängt unmittelbar mit der praktischen Umsetzung, d.h. der Öffnung von Bildung / Hochschullehre zusammen. OER sind dabei nur eine Manifestation, mit denen Grundlagen für eine tiefergehende Öffnung von Lehr- und Lernpraktiken verbunden ist. Wie weit die Öffnung gehen soll / kann, ist noch nicht Gegenstand von Diskussionen oder strategischen Überlegungen [14]. Eine Übereinkunft zu erzielen, was Öffnung der Hochschullehre bedeutet – z.B. im Sinne eines Öffnungsprozesses oder eines Öffnungszustandes – ist geboten. Zur Orientierung unterscheidet der Bericht [14] in Kerndimensionen – der Gegenstand Open Education – und transversale Dimensionen – der Prozess oder die Methode der Öffnung.

Die zehn Dimensionen von Open Education [14]

Mit zwei Thesen zum instruktionalen und offenen E-Learning möchte ich diesen Beitrag beenden.

These 1

Das instruktionale E-Learning hat sich von der Vision einer Bildungsreise zum digitalen Massenprodukt gewandelt. Standen zu Beginn der 2000er-Jahre virtuelle Lernwelten, die aufwendig produziert wurden im Zentrum, so wurde daraus leichter konfektionierbare Produkte, wie z.B. die Learning-Management-Systeme. Dies war auch eine Antwort auf die oft fehlende Nachhaltigkeit projektförmiger E-Learning-Anwendungen. Mit LMS stand ein stabiler Rahmen mit vorgefertigten Modulen zur Verfügung, die sich leicht kombinieren ließen. Die anfänglichen E-Learning-Projekte waren, wie bei jeder neuen technologischen Innovation zu sehen, durch hohe Erwartungen gekennzeichnet. Eine Transformation der Hochschullehre sollte durch innovative Bildungstechnologien ausgelöst werden. Hier wirkten die traditionellen Hochschulstrukturen jedoch domestizierend, dadurch dass E-Learning in unveränderte pädagogische Formate eingesetzt wurden.

These 2

Das offene E-Learning befindet sich auf dem Weg zur pädagogischen Wirksamkeit. Seit gut 20 Jahren gibt es ein politisches und wirtschaftliches Interesse an Open Education, um damit Fachkräfte besser (effizienter, schneller) auf die Anforderungen des Arbeitsmarkts vorbereiten zu können (siehe dazu etwa das mittlerweile eingestellte Programm „Opening Up Education“ der EU). Pädagogische Interesse spielen dagegen bei der UNESCO eine größere Rolle. OER wurde als wirksames Mittel für die Umsetzung der Idee „Bildung für alle“ verstanden und es galt Inklusion zu Förderung und Barrieren abzubauen, so dass möglichst viele Menschen Zugang zu Bildungsmöglichkeiten haben.


Quellen

[1]

Y. Ehrenspeck, „Philosophische Bildungsforschung: Bildungstheorie“, in Handbuch Bildungsforschung, R. Tippelt und B. Schmidt, Hrsg. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010, S. 155–169. doi: 10.1007/978-3-531-92015-3_7.

[2]

L. J. Issing und H. Schaumburg, „Educational technology as a key to educational innovation:: State of the Art Report from Germany“, TechTrends, Bd. 45, Nr. 6, S. 23–28, Nov. 2001, doi: 10.1007/BF02772017.

[3]

E-Learning Förderung in Deutschland, e-teaching.org, https://www.e-teaching.org/projekt/politik/foerderphasen

[4]

UNESCO, „Forum on the Impact of Open Courseware for Higher Education in Developing Countries“, UNESCO, Paris, 2002. [Online]. Verfügbar unter: https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000128515

[5]

M. H. Molenda, „History and Development of Instructional Design and Technology“, in Handbook of Open, Distance and Digital Education, O. Zawacki-Richter und I. Jung, Hrsg. Singapore: Springer, 2023, S. 57–74. doi: 10.1007/978-981-19-2080-6_4.

[6]

A. Watters, Teaching machines. Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 2021.

[7]

B. Hof, „Der Bildungstechnologe“, epubli, Berlin, 2018. [Online]. Verfügbar unter: http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0111-pedocs-161058.

[8]

https://de.wikipedia.org/wiki/Sebastian_Thrun

[9]

J. Neyer und J. Kurz, „Die unbedingte Universität in der Digitalisierung“, Forschung & Lehre, 8. August 2022. https://www.forschung-und-lehre.de/lehre/die-unbedingte-universitaet-in-der-digitalisierung-4915#

[10]

N. Döring und M. R. Mohseni, „Mobiles Lernen“, in Handbuch Bildungstechnologie, H. Niegemann und A. Weinberger, Hrsg. Berlin: Springer, 2020, S. 259–270. doi: 10.1007/978-3-662-54368-9_22.

[11]

U. Rinn und K. Bett, „Revolutioniert das“ E“ die Lernszenarien an deutschen Hochschulen? Eine empirische Studie im Rahmen des Bundesförderprogramms“ Neue Medien in der Bildung““, in Campus 2004. Kommen die digitalen Medien an den Hochschulen in die Jahre?, D. Carstensen und B. Barrios, Hrsg. Münster: Waxman, 2004, S. 428–437.

[12]

M. Kerres, „Bildung in der digitalen Welt: Über Wirkungsannahmen und die soziale Konstruktion des Digitalen“, MedienPädagogik, Bd. 17, Nr. Jahrbuch Medienpädagogik, S. 1–32, Apr. 2020, doi: 10.21240/mpaed/jb17/2020.04.24.X.

[13]

S. Haug und J. Wedekind, „‚Adresse nicht gefunden‘ – Auf den digitalen Spuren der E-Teaching-Förderprojekte“, in E-Learning: Eine Zwischenbilanz. Kritischer Rückblick als Basis eines Aufbruchs, U. Dittler, J. Krameitsch, N. Nistor, C. Schwarz, und A. Thilosen, Hrsg. Münster: Waxmann, 2009, S. 19–37.

[14]

A. I. dos Santos, Y. Punie, und J. C. Munoz, „Opening up Education. A Support Framework for Higher Education Institutions“, Joint Research Centre, Seville, 2016.

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