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Common Ground oder wie wir konstruktiv über die Zukunft der Hochschule sprechen können

Mit Michael Schubert spreche ich auf dem University Future Festival am 13. Mai in Berlin über Common Ground und wie uns dieser Ansatz helfen kann, über die Zukunft der Hochschule zu sprechen. Zum Nachlesen und Mitdenken stellen wir hier unseren theoretische Grundlage für den Vortrag dar.

Wir gehen in unserem Vortrag von der folgenden These aus:

Die Hochschulen sind Teil gesellschaftlicher Zukunftsbilder (Imaginaries). In den vergangenen 25 Jahren können wir eine Verschiebung feststellen von utopischen, emanzipatorischen Visionen hin zu ideologischen, von Krisenbewusstsein und technokratischen Denken geprägten Imaginaries. 

Als kurzen theoretischen Einschub gehe ich kurz auf den Begriff “Imaginaries” ein. 

Der Begriff „Imaginaries“ beschreibt kollektiv geteilte, normativ aufgeladene Zukunftsbilder, die Vorstellungen darüber beinhalten, wie Gesellschaft funktionieren soll – und wie Technologie dabei eine Rolle spielt.

„Sociotechnical imaginaries are collectively held, institutionally stabilized, and publicly performed visions of desirable futures, animated by shared understandings of forms of social life and social order attainable through, and supportive of, advances in science and technology.“ 

(Jasanoff & Kim, 2015, S. 6)

Folgen wir diesem Verständnis wird klar, dass Imaginaries keine bloßen Fantasien sind, sondern politisch und kulturell wirken und Institutionen, Infrastrukturen und Bildungsstrategien formen. Bildung spielt dabei eine besondere Rolle, als Allheilmittel für die Herausforderungen, denen wir im Zuge der digitalen Transformation begegnen. Anders formuliert: Um die Gesellschaft bereit für die digitale Transformation zu machen, braucht die Bevölkerung ein ständiges Update, in Form von Medien- oder Digitalkompetenz oder Future bzw. AI-Skills. Omnipräsent sind seit Jahren auch die Kompetenzorientierung und das lebenslange Lernen. 

“(…) education has long been a central component in the regulation of technology. Another way to put it is to say that education has been used to control technological implementation and govern citizens in order to create desired futures.”

(Rahm, 2023, S. 46)

Zu jedem Zeit der gesellschaftlichen Entwicklung stehen Imaginaries im Widerstreit miteinander um Deutungshoheit. Imaginaries, die von relevanten Akteuren getragen werden, haben eine größere Chance, in die Realität umgesetzt zu werden als eher randständige Visionen. Durch bestimmte Ereignisse wie die Corona-Pandemie können sich Imaginaries rasch ändern, d.h. für jedes dominante Imaginary gibt es immer auch Alternativen, die diesem gegenüber an Einfluss gewinnen können. Die aktuellen Debatten über KI verdeutlichen diesen umstrittenen Charakter von Imaginaries. 

Wir gehen nun auf den Wandel der Imaginaries im Hochschulbereich ein. Hier ist zu beachten, dass die Imaginaries zum Zwecke des besseren Verständnis  vereinfacht wurden und wir uns bewusst sind, dass es jeweils auch alternative Vorstellungen gibt. 

1. E-Learning als Bildungsinnovation 

Californian Ideology, dargestellt in Form eines Surfbretts.

Schauen wir nun auf den Wandel der Imaginaries und blicken zurück auf die Zeit Anfang der 2000er-Jahre. Dies war die Zeit des digitalen Aufbruchs der Hochschulen in ein neues Zeitalter, das geprägt war von Emanzipation und Teilhabe. Digitale Technologien bzw. E-Learning wurde als Werkzeuge verstanden, das Lehren und Lernen offener, flexibler, partizipativer und gerechter zu gestalten.

Exemplarisch können wir das am mediendidaktischen Hochschulpreis “Medida-Prix” sehen, der zwischen 1999 und 2009 jährlich von der Gesellschaft für Medien in der Wissenschaft (GMW) vergeben wurde. Mit dem Preis sollte die Qualität und die Nutzung digitaler Medien in der Hochschullehre gefördert werden. Die damals breite Beteiligung zeigt: Es herrschte Aufbruchstimmung, das Internet wurde als pädagogisch bedeutsame Innovation und als Träger emanzipatorischer Bildungsutopien verstanden.

Ausschreibung Medida-Prix 2002, Quelle: https://web.archive.org/web/20020602112133/http://medidaprix.org/frameset.htm

Ein weiteres Beispiel ist der Einsatz von Weblogs in der Hochschullehre zur Reflexion, Diskussion und Dokumentation und damit als utopisches Moment zur Veränderung der Praxis von autoritärer Wissensvermittlung zu Kollaboration und Partizipation.

„Weblogs verbinden individuelle User zu einem Netzwerk von Wissensproduzenten und -konsumenten […] gerichtet auf den Aufbau einer universalen und kontinuierlich erweiterbaren Wissensallmende.“
– (Draheim & Beuschel, 2005, S. 31)

Der Einsatz von unterschiedlichen E-Learning-Tools in der Hochschule wurde ermöglicht durch bestimmte Mythen über das Internet. So verstand man das Netz damals als demokratisches Medium per se, als eine technologische Infrastruktur für eine bessere Gesellschaft. Diese Mythen normalisieren dominante Ideologien, indem sie alternative Sichtweisen unsichtbar machen und bestehende Machtverhältnisse als “natürlich” erscheinen lassen. Sie sickern tief in unser Alltagsverständnis ein und werden quasi „automatisch“ verwendet.

“Also relying on the ‘distributed’ myth, contemporary forms of what we can call net-determinism are deeply invested in the idea that networks themselves are agents of change.”
– (Bory, 2020, S. 21)

“For example, in the 1990s and early 2000s, utopian visions of how the internet would usher in a new era of cultural democracy and undermine the power of dictators concealed the fact that the concepts of digital participation and digital disruption were scarcely problematized.”
– (Balbi et al., 2021, S. 1f)

Ein bekannter Mythos aus dem E-Learning-Diskurs war die Gleichsetzung von E-Learning mit Effizienz. In den frühen E-Learning-Konzepten finden sich häufig technologische Narrative, die sich um Automatisierung und Skalierung drehen, allerdings ohne zentrale pädagogische Fragen zu adressieren. Es ging um Systeme, nicht um Bildung.

“Das Potenzial von eLearning in Deutschland ist immens. Jetzt geht es darum, dies zu nutzen und Marktpotenziale zu erobern – mit Marketing, Qualitätsmanagement, Industrieniveau und internationaler Ausrichtung.” Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung
– (DLR-Projektträger – et al., 2004, S. 5)

Ausgehend von der Bologna-Reform ab 1999 und der zunehmenden Output-Orientierung der Hochschulbildung wurde der Ruf nach Effizienz, Standardisierung und Vergleichbarkeit lauter. Das emanzipatorische Imaginary, das insbesondere über den Medida-Prix in den Diskurs eingespeist wurde, konnte sich nicht nachhaltig durchsetzen. E-Learning wurde ökonomisch vereinnahmt und konnte sich nicht als pädagogischer Innovationstreiber im Hochschulsystem etablieren. Ein weiterer Indikator für die eher randständige Position des Imaginaries “Bildung durch Teilhabe” ist die geringe Rezeption der Open-Educational-Resources-Bewegung. OER sind im Kern emanzipativ und partizipativ angelegt, stoßen aber immer wieder an die harten Grenzen des sozio-technischen Regimes in der Hochschule und spielen in der täglichen Lehrpraxis keine große Rolle.

Auch hatte die Mediendidaktik als “Heimat-Disziplin” des E-Learning eine eher randständige Position im Diskurs und nur geringen Einfluss auf die Entwicklung von Hochschulstrategien in Rektoraten und IT-Zentren. Exemplarisch lässt sich dies an der Bedeutung von Lernplattformen, die leicht zu konfigurieren waren und viele Funktionen zum Management des Lernens boten. Etwas ketzerisch könnte man sagen, das Lehren und Lernen wurde auf einer Plattform eingesperrt, während im Alltag das weltweite Web zur Informationssuche und Kontaktpflege immer selbstverständlicher wurde.

Der Diskurs war stattdessen geprägt von der Vision, mit technischen Systemen Bildung zu steuern und die Hochschulen effizienter und international wettbewerbsfähig zu machen. Durch die Automatisierung von administrativen Prozessen in der Lehre sollte der Aufwand reduziert und Kosten eingespart werden.
Hier schimmert der technologische Determinismus bzw. Solutionismus durch, also die Vorstellung, dass Technik soziale Probleme lösen kann und das unabhängig vom Kontext.

“Lernplattformen sind diskutiert worden als die technologische Basis für neue, „virtuelle Hochschulen“. Mit der Forderung nach „integriertem Informationsmanagement“ in der Hochschule wird eine Verschiebung der Sichtweise deutlich.”
– (Kerres et al., 2003, S. 12)

Dieses Zitat gibt einen Vorgeschmack auf die nächste Phase.

2. Technokratischer Shift: Digitalisierung als Managementstrategie

Was sich im Laufe der 2000er-Jahre bereits abgezeichnet hat, kommt spätestens ab 2010 immer deutlicher zum Vorschein: Der Wandel vom E-Learning zur Digitalisierung der Hochschule. Es ist ein Shift von didaktischen Zielen zu strategischen Interessen. Während in der Phase davor das Lehren und Lernen noch im Zentrum stand, weitet sich nun der Fokus und Digitalisierung wurde als Mittel für mehr Effizienz, Skalierung, Sichtbarkeit und Steuerbarkeit konzipiert.

“Digitalisierung wird nicht nur die Hochschullehre, sondern das gesamte Hochschulsystem verändern.”
– (Dräger et al., 2014, S. 4)

Verschiedene Akteursgruppen wie Stiftungen, Ministerien, Hochschulverbände waren beteiligt, die Vision zu etablieren, wonach Digitalisierung ein neues und umfassendes Steuerungsinstrument ist , das tief in alle Funktionsbereiche der Hochschule eingreift. Gefordert war somit eine strategische Auseinandersetzung für die Bereiche Profilbildung, Wettbewerbsfähigkeit, Internationalisierung, technologische Ausstattung (neben Lernplattformen auch Campus-Management-Systeme oder Systeme für die Digitalisierung der Forschung) oder Governance. Das Hochschulforum Digitalisierung (HFD), gestartet im Jahr 2014, war ein wichtiger Akteur für diesen neuen, strategisch orientierten Diskurs, der Digitalisierung als Aufgabe der Hochschulleitung positionierte. Das HFD war als Impulsgeber für Change Management bzw. strategische Hochschulentwicklung konzipiert und bearbeitete in der ersten Phase von 2014 bis Ende 2016 als “Expertenplattform” sechs Themen (Friedrich, 2014):

  1. Neue Geschäftsmodelle, Technologien & Lebenslanges Lernen
  2. Internationalisierung und Marketingstrategien
  3. Change Management & Organisationsentwicklung
  4. Innovationen in Lern- und Prüfungsszenarien
  5. Curriculum Design & Qualitätssicherung
  6. Governance & Policies

Zu erkennen ist ein Schwerpunkt auf Strategie und Management, was als Nukleus der Hochschultransformation verstanden werden kann. Pädagogische Themen wurden funktional in den Gesamtrahmen der digitalen Transformation eingebettet und nicht etwa als eigenständige Konzeptarbeit (“Was heißt Hochschulbildung in der digitalen Transformation?”). Zudem wurden sie von Präsident/innen, Rektor/innen oder Top-Level-Verantwortlichen geleitet, was im Einklang mit der Ausrichtung des leitenden Imaginary, Digitalisierung als Aufgabe von Steuerung und Organisation, stand.

Als Leitmetapher wurde “Digital Turn” auserkoren, was die Digitalisierung als historischen Wandlungsprozess rahmt.

“Bei der Kernaufgabe Hochschullehre rückt die weitreichende Integration digitaler Medien und Technologien erst allmählich in den Bereich der Normalität. Doch unverkennbar ist schon heute: So wie der Buchdruck die Formate der Wissensproduktion und -verbreitung und damit die Art und Weise des Lernens und Lehrens neu strukturiert hat, so verändert auch die Nutzung des Internets und die Einbindung digitaler Medien die Hochschulen weitreichend. Im Ergebnis wird digital unterstütztes Lehren und Lernen integraler Bestandteil der Hochschullehre werden.”
(hochschulforum digitalisierung, 2016, S. 8)

Der Digital Turn weist auf einen umfassenden kulturellen Wandel hin, der unvermeidbar ist und schafft damit eine Legitimation für die anstehenden Veränderungsprozesse. Dabei geht es in erster Linie um die Notwendigkeit der Hochschulen, sich strategisch und politisch in den Diskurs zu positionieren. Welche Rolle dabei das Bildungsideal, oft angelehnt an den klassischen Bildungsbegriff von Humboldt, spielt, war und ist umstritten. So finden sich Stimmen, die Humboldt und sein bildungsphilosophisches Erbe als “(…) Chiffre, mit der auf eine diffuse Art signalisiert wird, dass die Digitalisierung gut ist, weil sie im Namen der Aufklärung umgesetzt wird” (Erichsen, 2024, S. 38) verwenden, auch für Digitalisierungsprojekte, die diesem entgegenstehen (Dräger & Müller-Eiselt, 2015). Diese geborgte Autorität verhindert eine kritische Auseinandersetzung mit der Digitalisierung, denn wer will sich schon mit einem Kaliber wie Humboldt anlegen?

Auch wenn im Laufe des Digitalisierungsdiskurs bildungsphilosophische Fragen weniger holzschnittartig diskutiert wurden, blieben im Imaginary die Perspektive des Managements und der technischen Infrastruktur gegenüber pädagogisch-didaktischen Orientierungen dominant. So waren auch zu Beginn die Studierenden bzw. Lernenden als eine zentrale Zielgruppe eher unterrepräsentiert und es wurde über sie, statt mit ihnen gesprochen. Die Initiative Digital Changemaker des HFD setzte hier bewusst einen anderen Akzent. Ein weiterer Indikator betrifft die über lange Zeit eher geringe Bedeutung des Instructional Design bzw. didaktischen Design, die im vorherigen E-Learning-Imaginary (2000-2015) durch Personen wie Peter Baumgartner (2007), Helmut Niegemann (2019), Rolf Schulmeister (2004) oder Gabi Reinmann (2011) als wichtige pädagogische Komponente aufgebaut wurde.
Das Instructional Design war das didaktisch-theoretische Rückgrat für die Gestaltung von E-Learning-Umgebungen und war eng verbunden mit Fragen von Effektivität und Qualität. Durch Rückgriff auf lerntheoretische Erkenntnisse sollte sichergestellt werden, dass E-Learning im Sinne der Ersteller auch funktioniert.

Die Digitalisierung drängte dieses pädagogisch-orientierte Imaginary an den Rand und an dessen Stelle kam nun ein neues Bündel an Themen, das sich um IT-Infrastruktur (z.B. Einführung von Lehr- und Lernplattformen) und Governance (Organisation, Finanzierung, Recht) drehte. Durch die Verankerung des Digitalisierungs-Imaginary als Epochenwandel (ähnlich wie bei der Industrialisierung) spielten neue Technologien eine herausgehobene Rolle in der pädagogischen Debatte. Diese wurden verbunden mit Slogans wie “Shift from Teaching to Learning” (kritisch dazu „Learnification“, Biesta, 2012) und ersetzen notwendige didaktische Grundlagendiskussionen (Lübcke & Wannemacher, 2020, S. 194)

Die Debatte um die Massive Open Online Courses (MOOCs), die mit etwas Verzögerung ab 2015 auch in Deutschland ausbrach und unter anderem dafür sorgte, dass das Hochschulforum Digitalisierung gegründet wurde als Plattform zur strategischen Bündelung, steht paradigmatisch für die dominante Sichtweise auf Digitalisierung. MOOCs stehen als Instrument für mehr Sichtbarkeit der Hochschulen, etwa durch Präsenz auf internationalen Plattformen wie edX. Sie stehen auch für ein wirtschaftlich-technokratisches Steuerungsmodell, das auf Skalierbarkeit, Modularisierung und Automatisierung setzt; sonst wären die Massen der Lerninteressierten auch nicht zu bewältigen.

3. Digitale Hochschule zwischen Krisenmodus und Neuaushandlung

Die COVID-19-Pandemie, ausgebrochen im März 2020, war der Elchtest für die Hochschulen und ihre seit wenigen Jahren laufenden Strategieprozesse. Da es nahezu keine Zeit für die Hochschulen zur Umstellung auf digitale Lehre gab, prägte das sog. Emergency Remote Teaching die erste Zeit. Es kam zu dem, vor dem viele Exptert/innen lange gewarnt hatten: die Zwangsdigitalisierung der Hochschulen. Es gab plötzlich keine Alternativen mehr, digitale Werkzeuge waren keine An- oder Bereicherung der Präsenzlehre, sondern eine notwendige und hinreichende Bedingung für die Aufrechterhaltung des Lehrbetriebs.

“Ein Großteil der Lehrveranstaltungen an Hochschulen konnte komplett von Präsenzformaten in digitale Formate überführt werden, wodurch die Lehre trotz Pandemie weitgehend stattfinden konnte. Studien zufolge sind die Studierenden mit der Umsetzung in digitale Formate überwiegend zufrieden. Auch der Wissens- und Kompetenzerwerb während der Digitalsemester wird von ihnen stärker positiv als negativ bewertet. Einigen Studierenden ermöglichen digitale Formate, ihre Lernsituation individueller zu gestalten. Die Studiensituation wird von Studierenden insgesamt jedoch als schwieriger eingeschätzt: Als kritische Punkte werden vor allem die sozialen Kontakte und die Kommunikation im Studium sowie die Bewältigung des Lernstoffs genannt”
– (Bundesregierung, 2021)

Wie unter einem Brennglas ließen sich Herausforderungen und Erfolgsfaktoren aus dem Digitalisierungsdiskurs ableiten, wie etwa stabile technische Infrastrukturen für Lehre, Prüfung und Kommunikation (Lübcke et al., 2022), ausreichend Personal im IT-Support (Goertz & Hense, 2021) oder hochschulübergreifende Organisationen und Netzwerke (Deimann, 2021).

Die Hochschulen leisteten Ungewöhnliches während der Krise, wie etwa die sehr agile Beschaffung von Technologien, und konnten zu Recht stolz sein, dass kein Semester ausfallen musste (was direkt zu Beginn der Pandemie noch diskutiert wurde). Gleichzeitig stiegen damit die Erwartungen, dass sich Mechanismen der Krisenbewältigung in nachhaltige Strategien für die Hochschule in der digitalen Welt übersetzen lassen.

In welche Richtung sich die Hochschule entwickeln wird, hängt davon ab, wie sehr sich die jeweiligen Imaginaries als sozio-kultureller Unterbau durchsetzen. Unbestritten ist die dominante Rolle von Technologien, was sich durch den Start von ChatGPT Ende 2022 noch weiter verstärkt hat. Wie tief die technologische Integration in der Hochschullehre gehen soll, ist zu einer zentralen Konfliktlinie im Diskurs über die zukünftige Ausrichtung geworden. Als Analyseraster und Entscheidungshilfe bietet sich an:

Narrativ

  • Techno-Optimismus vs. Realismus / Skepsis
  • Positive Utopie vs. weiter so wie bisher (TINA-Argument)
  • empirische Evidenz: Welche Belege gibt es für die versprochenen Möglichkeiten der Bildungstechnologie?

Pädagogische Rahmung / Bildungsverständnis

  • technokratischer Steuerungsansatz als Weiterführung und Verstärkung des Imaginary “Digitalisierung als Managementaufgabe” vs. pädagogisch-emanzipatorisches Bildungsverständnis

Interessen

  • Zunehmende Einbindung von Big-Tech / Ed-Tech-Anbietern als Ausweis einer stärkeren libertären Marktlogik vs. Hochschule als demokratische Räume mit Gemeinwohlorientierung
  • Plattformen als technologische Herrschaftssysteme (Infrastrukturhoheit und Monopolstellung) vs. Technologien als Mittel zur Unterstützung humaner Bildungsziele (Partizipation, Co-Design, Commons)

Die nachfolgende Tabelle fasst die drei Imaginaries nochmal zusammen.

ImaginaryZeitraumBeschreibungBlinde Flecken
1. E-Learning als Bildungsinnovation ca. 2000–2010Utopisches Imaginary:  Technologien (v. a. E-Learning, Web 2.0) werden als Mittel zur Partizipation und Öffnung von Bildung gedacht. Leitmotive sind Emanzipation, Kollaboration und reflexive Mediennutzung.Vernachlässigung institutioneller HürdenGeringe strukturelle Verankerung in HochschulstrategienTechnikeuphorie ohne kritische Einordnung der Mythen und Ideologien
2. Digitalisierung als Managementstrategieca. 2010–2019Technokratisches Imaginary: Digitalisierung wird zur strategischen Aufgabe. Der Fokus liegt auf Effizienz, Skalierbarkeit, Steuerung und Profilbildung. Hochschulleitungen, Stiftungen und Ministerien treiben die Agenda. Zentrale Rolle spielen Plattformen, Learning- Management-SystemePädagogisch-didaktische ExpertiseStudierende werden als Zielgruppe, nicht als Mitgestaltende adressiert Bildung wird ökonomisch funktionalisiert und entkoppelt von ihrer emanzipatorischen Rolle
3. Hochschule im Krisenmodus und Neuaushandlungab 2020Ambivalentes Imaginary: COVID-19 als Beschleuniger kurzfristiger Digitalisierung und Auslöser langfristiger Reflexion. Zwischen Notwendigkeit, technischer Normalisierung und neuen Aushandlungsprozessen über die Zukunft der Hochschule. Konfliktlinien: Plattformlogik vs. Gemeinwohl, technokratische Steuerung vs. Bildungsideal.Gefahr der Verfestigung von Notlösungen (Emergency Remote Teaching) als StandardUnklarheit über Zielbilder Gefahr weiterer Dominanz technischer Steuerungslogik gegenüber partizipative Strategien

Literatur

  • Balbi, G., Ribeiro, N., Schafer, V., & Schwarzenegger, C. (Hrsg.). (2021). Digital Roots: Historicizing Media and Communication Concepts of the Digital Age. De Gruyter. https://doi.org/10.1515/9783110740202
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  • Schulmeister, R. (2004). Didaktisches Design aus hochschuldidaktischer Sicht: Ein Plädoyer für offene Lernsituationen. In U. Rinn & D. M. Meister (Hrsg.), Didaktik und Neue Medien. Konzepte und Anwendungen in der Hochschule (S. 19–49). Waxmann.

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