Diese Woche präsentiere ich bei der TURN-Conference in Berlin einen kurzen Beitrag zu KI und den Möglichkeiten zur Öffnung der Hochschule. Als Abstract habe ich eingereicht:
ChatGPT Der öffentliche Launch von ChatGPT im November 2022 markierte einen Wendepunkt und entfachte einen beispiellosen medialen Hype. Dieses Ereignis betonte die unausweichliche Präsenz und den Einfluss von KI auf sämtliche gesellschaftliche Bereiche, besonders auf die Bildung. Hochschulen reagierten schnell, indem sie z.B. „Prompting-Labore“ einrichteten und rechtliche Rahmenbedingungen für den Einsatz generativer KI erforschten. Trotz dieser Initiativen betonen die Autoren die Notwendigkeit einer fortlaufenden, tiefgehenden Auseinandersetzung mit den Auswirkungen von KI in der Hochschullehre. Sie schlagen eine Bewertung der KI-Potenziale und -Herausforderungen vor, die sich an der Open-Education-Bewegung orientiert, gestützt auf ein Projekt zur Verknüpfung von KI und Open Educational Resources (OER). Die Transparenz von Trainingsdaten und die Forderung nach einer öffentlich zugänglichen Trainingsdatenbank als Gegenmaßnahme zu den Problemen generativer KI stehen im Fokus. Der Beitrag endet mit Empfehlungen zur Gestaltung einer zukunftsorientierten Bildungspolitik.
Der Vortrag gliedert sich in drei Teile.
Erstens geht es um die Frage, wie wir aktuell über KI in der Hochschule bzw. in der Hochschullehre diskutieren. Dazu habe in über die Scopus-Datenbank für das Jahr 2024 Artikel recherchiert, die sich mit KI / AI im Kontext der Hochschullehre beschäftigen. Die Paper sollten auf einer höheren Flughöhe angesiedelt sein, Ich komme auf 34 Treffer, die ich unten in den Quellenangaben aufgelistet habe. Die Beiträge habe ich in ein großes PDF (1016 Seiten) überführt und es mit ChatGPT 4.o und Google Notebook analysiert. Konkret habe ich beide LLM gebeten, mir vier zentrale Visionen im KI-Diskurs zu nennen.
Zweitens geht es mir um die Einordnung dieser Visionen in einen größeren Rahmen aus sozio-kulturellen Überzeugungen und Mythen, die in der Literatur als Imaginaries bezeichnet werden. Damit gemeint sind
collectively held, institutionally stabilized, and publicly performed visions of desirable futures, animated by shared understandings of forms of social life and social order attainable through, and supportive of, advances in science and technology
Jasanoff, S. (2015). Future imperfect: Science, technology, and the imaginations of modernity. In S. Jasanoff, & S. H. Kim (Eds.), Dreamscapes of modernity: Sociotechnical imaginaries and the fabrication of power (pp. 1–33). The University of Chicago Press, p. 4
Imaginaries helfen uns, einen Blick hinter die Kulissen des gerade ablaufenden KI-Hypes zu werfen und die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zusammenhänge in den Blick zu nehmen. Denn wie Dan Mamlok argumentiert
While there is a growing literature about the potentials and pitfalls of AI in education, there is less consideration of the processes in which social imaginaries are shaped and how the implementation of new technologies, such as AI in education, reflects the different envisions of social actors to improve social, political, and cultural realities. Yet, the challenge of imaginaries in an ultra-digitized world is the glorification of instant forms of knowledge, which, rather than promoting an appreciation for the symbolic meaning of the experience, encourage the integration of those platforms in education to achieve instrumental goals.
Mamlok, D. (2024). Landscapes of Sociotechnical Imaginaries in Education: A Theoretical Examination of Integrating Artificial Intelligence in Education. Foundations of Science, 10.1007/s10699-024-09948-x.
Auf der Hinterbühne laufen also die Weichenstellungen in Form von Bildern, Erzählungen und Visionen über die Zukunft der Hochschullehre. Dazu gehört etwa die Betonung der Unausweichlichkeit bzw. Unvermeidbarkeit der tiefgreifenden Integration von KI in die Hochschullehre als notwendige Voraussetzung für Innovation und Fortschritt. Gleichzeitig wird betont, wie wichtig es ist, die Gesellschaft und in unserem Fall die Hochschullehre vor den Schäden von KI zu schützen, insbesondere in Form von politischen Regulationen. Da jedoch die KI-Imaginaries von mehreren Akteuren vorangetrieben werden (u.a. große Tech-Konzerne) und diese nicht gerne von Außen als einflussreich und mächtig angesehen werden wollen, gibt es eine Tendenz zur Entpolitisierung (Jasanoff, 2015). Entpolitisierung ist ein wirksames Mittel, um den Status Quo zu legitimieren und um nicht auf den umstrittenen bzw. umkämpften politischen Charakter der KI-Diskurse hinweisen zu müssen, d.h. nicht mögliche Alternativen zu den dominanten Szenarien diskutieren zu müssen (Brevini, 2021).
Die von mir über die Scopus-Recherche identifizierten KI-Visionen lassen sich mit Hilfe des Imaginaries-Konzept wie folgt bewerten (siehe dazu auch Friesen, 2020; Means, 2018; Natale & Ballatore, 2020; Rahm, 2023; Schütze, 2024). Lernen findet zunehmend in der Interaktion zwischen Menschen und intelligenten Systemen statt, d.h. Lehr- und Lernprozesse werden stärker als zuvor von technologischen Systemen wie KI beeinflusst und gesteuert. Ein paradigmatisches Beispiel dafür ist das sog. personalisierte Lernen bzw. personalisiertes Lernpfade und adaptive Unterstützung, z.B. durch KI-Assistenten. Damit wir alle mit der rasanten Entwicklung mitkommen, ist eine kontinuierliche Anpassung unserer Fähigkeiten und Kompetenzen notwendig. Diese werden wahlweise als KI-Kompetenzen oder „Future-Skills“ bezeichnet. Lebenslanges Lernen ist dann keine Option mehr, sondern Pflicht. Dank der neuen technischen Möglichkeiten, werden Lehrkräfte von lästigen administrativen Arbeiten befreit und es kommt zu einer Effizienzsteigerung.
Vor dem Hintergrund der knappen Zeit bei meinem Vortrag belasse ich es bei dieser knappen Beschreibung der aktuell im KI-Diskurs vorzufindenden Visionen.
Als dritten Schritt nehme ich eine Kontrastierung dieser Visionen im Kontext der Open-Education-Bewegung vor. Auch hier finden wir einige Leitvorstellungen bzw. Imaginaries, über die ich hier schon geschrieben habe. So ist etwa OER Teil einer partizipativ-emanzipatorischen Erzählung, die wiederum in einem älteren cyberlibertären Narrativ verwurzelt ist, manifestiert unter anderem in der Declaration of the Independence of the Cyberspace von 1996. Ein anderes Imaginary bezieht sich auf OER als Teil einer globalen Wissensökonomie. Indem hochwertige Lehr- und Lernmaterialien sehr viel mehr Menschen als über das bisherige Bildungssystem zur Verfügung stehen und wir mittlerweile nicht mehr in der Industrie-, sondern in der Wissensgesellschaft leben, bekommen OER eine instrumentelle Funktion. Auch lassen sich Kosten sparen, da sich OER wieder verwenden und überarbeiten lassen. Insbesondere mit den Massive Open Online Course wurde dieses Imaginary konkret erlebbar, als vor zehn Jahren sich viele Hochschulen in ihrem Geschäftsmodell bedroht sahen angesichts kommerzieller Anbieter.
Schließlich gibt es noch das Imaginary „OER als Teil eines reformierten Bildungssystems“, das aus meiner Sicht wichtige Impulse für den aktuellen KI-Diskurs bietet. Dabei ist OER kein Selbstzweck, sondern ein zentrales Mittel für die Transformation der Hochschullehre hin zu Open Educational Practices (OEP). Der angestrebte Reformprozess erfolgt im Imaginary evolutionär:
We conclude that OER is currently in an intermediate phase which we would like to call phase 1, which focuses on creation and open access. Phase two is about using OER in a way that learning experiences improve and educational scenarios are innovated. It is about quality and innovation. It is the next phase in OER development which will see a shift from a focus on resources to a focus on open educational practices. These comprise a combination of open resources use and open learning architectures to transform learning into 21st century learning environments in which universities‟, adult learners and citizens are provided with opportunities to shape their lifelong learning pathways in an autonomous and self-guided way.
Andrade, A., Ehlers, U.-D., Caine, A., Carneiro, R., Conole, G., Kairamo, A.-K., Koskinen, T., Kretschmer, T., Moe-Pryce, N., Mundin, P., Nozes, J., Policarpo, V., Reinhardt, R., Richter, T., Silva, G., & Holmberg, C. (2011). Beyond OER – Shifting Focus to Open Educational Practices. OPAL Report (S. 191). Due-Publico. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:464-20110208-115314-6
Es geht hier um die Transformation der Hochschullehre insgesamt, indem sich insbesondere die Lehrpraktiken an die geänderten Rahmenbedingungen anpassen, die sich im Zuge der Entstehung des sog. Web 2.0, des mobilen Internet und der Online-Lernplattformen herausgebildet haben. Hochschullehre soll sich öffnen, transparenter und partizipativer werden und mehr auf Kompetenz-, statt auf Wissensvermittlung fokussieren. Tatsächlich setzte sich die Digitalisierung ab den 2010er-Jahren nur zögerlich durch und wurde oft als Anreicherung für bestehende Präsenzszenarien verstanden, denn als tatsächliche Transformation. Als dann gegen Ende der Dekade eine Pandemie wütete wurde schnell klar, dass die technologischen, sozialen und pädagogischen Voraussetzungen bei den Hochschulen nicht dem entsprachen, wie es in den OEP-Visionen ausgemalt wurde. So fehlte es etwa an einer OER-freundlichen Infrastruktur und am Kompetenzaufbau beim Lehrpersonal im Bereich OEP.
Was hat das aber nun mit KI zu tun? Ähnlich wie bei OER, lässt sich KI als Mittel zum Zweck der Transformation von Hochschullehre verstehen, die sich an Werten wie Emanzipation, Transparent und Partizipation orientiert. So wird aktuell etwa von David Wiley in Anlehnung an generative KI bereits von generative OER gesprochen.
Generative AI makes possible a new kind of OER that I’ll call “generative OER”. These are OER whose purpose is not to be studied directly by learners or used directly by teachers (like traditional OER are). Generative OER are OER whose purpose is to help learners, teachers, and other users create other OER. Generative OER include openly licensed prompts and openly licensed model weights.
https://opencontent.org/blog/archives/7568
Das Potenzial von generativer KI zur Erstellung von Inhalten on demand oder die Fähigkeit von Custom-based Chatbots ist sicherlich hoch. Diese Perspektive ist jedoch auch Teil der von mir weiter oben dargestellten zentralen Visionen im KI-Diskurs (personalisiertes Lernen, verbesserte Interaktion und Feedback) und trägt eher zur Verfestigung des Status Quo bei (siehe dazu Schütze, 2024). Der Einsatz einer innovativen Technologie ist jedoch nicht gleichbedeutend mit der Innovation der Lehre. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der von der Open-Education-Bewegung immer wieder stark gemacht wird, ist der respektvolle Umgang mit dem Urheberrecht. Dies steht im Widerspruch zu den Praktiken von Konzernen wie Open AI, die ohne Rücksicht das komplette Internet zum Training ihrer LLM verwenden, woraus dann kommerzielle Produkte entstehen. Ebenso zentral ist ein verantwortungsvoller, d.h. ressourcenschonender Umgang mit diesen Produkten, d.h. ein Bewusstsein, wann welches LLM in einem bestimmten pädagogischen Kontext Sinn macht. Die Aufklärung der Hochschul-Menschen über die prekären Bedingungen von menschlicher Arbeit beim Trainieren von KI ist bisher kaum erfolgt. Spannend ist auch, aus einer pädagogischen Perspektive heraus über mögliche KI-Anwendungen nachzudenken und die in Communities gemeinsam umzusetzen.
Die Zukunft der Hochschullehre im Zeitalter der KI wird nicht allein von technologischen Möglichkeiten, sondern von unseren Werten und der Fähigkeit zur kritischen Reflexion geprägt. Nur durch bewusste Entscheidungen und eine klare Vision können wir sicherstellen, dass KI tatsächlich zur Öffnung der Hochschule beiträgt und mehr ist als die Festschreibung des Bestehenden.
Literatur
- Brevini, B. (2021). Creating the Technological Saviour: Discourses on AI in Europe and the Legitimation of Super Capitalism. In P. Verdegem (Hrsg.), AI for Everyone? Critical Perspectives (S. 145–159). University of Westminster Press. https://doi.org/10.16997/book55.i
- Friesen, N. (2020). The Technological Imaginary in Education: Myth and Enlightenment in ‘Personalized Learning’. In M. Stocchetti (Hrsg.), The Digital Age and Its Discontents: Critical Reflections in Education (S. 141–160). Helsinki University Press. https://doi.org/10.33134/HUP-4-8
- Mamlok, D. (2024). Landscapes of Sociotechnical Imaginaries in Education: A Theoretical Examination of Integrating Artificial Intelligence in Education. Foundations of Science. https://doi.org/10.1007/s10699-024-09948-x
- Means, A. J. (2018). Platform learning and on-demand labor: Sociotechnical projections on the future of education and work. Learning, Media and Technology, 43(3), 326–338. https://doi.org/10.1080/17439884.2018.1504792
- Natale, S., & Ballatore, A. (2020). Imagining the thinking machine: Technological myths and the rise of artificial intelligence. Convergence: The International Journal of Research into New Media Technologies, 26(1), 3–18. https://doi.org/10.1177/1354856517715164
- Rahm, L. (2023). Education, automation and AI: A genealogy of alternative futures. Learning, Media and Technology, 48(1), 6–24. https://doi.org/10.1080/17439884.2021.1977948
- Schütze, P. (2024). The impacts of AI futurism: An unfiltered look at AI’s true effects on the climate crisis. Ethics and Information Technology, 26(2), 1–14. https://doi.org/10.1007/s10676-024-09758-6
Quellen aus der Scopus-Recherche
Categories: Open Education
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